Januarfluss
mir wirklich leid, ihnen so viel Kummer bereitet zu haben. Das Problem ist, dass es mir überhaupt nicht leidtut. Je länger ich darüber nachdenke, desto lustloser bin ich, diesen Brief weiterzuschreiben. Lu hat mir geraten, möglichst nichts über Dom Fernando zu schreiben. Aber wie soll ich meinen Eltern erklären, was mich zur Flucht bewogen hat, wenn ich den Hauptgrund nicht nennen darf? Seufzend mache ich mich ans Werk. Ich muss diesen blöden Brief jetzt endlich schreiben, sonst gibt Lu keine Ruhe.
Im Gegenteil: Ich habe wunderbare neue Freunde gewonnen, wertvolle Erfahrungen fürs Leben gesammelt und vieles gesehen, was Mädchen meines Standes normalerweise verborgen bleibt. Dass ich euch Sorgen bereitet habe, tut mir leid. Dennoch möchte ich euch bitten, euch noch ein wenig zu gedulden und die Suche nach mir einzustellen. Ich verspreche euch, dass ich bald wieder zurückkehre, unversehrt und fröhlich wie eh und je. Die Gründe für meine spontane Reise werde ich euch dann ausführlich erklären.
In Liebe
Isabel
So, geschafft. Bevor ich es mir wieder anders überlegen kann, falte ich den Bogen, stecke ihn in ein Kuvert und adressiere ihn. Als Absender schreibe ich nur Isabel de Oliveira, ohne Angabe eines Ortes. Ich habe vor, zum Bahnhof zu gehen und den Umschlag jemandem mitzugeben, der verreist, vielleicht nach Petrópolis. Der Poststempel bringt meine Eltern dann hoffentlich auf eine falsche Spur. Ich klebe eine Marke auf das Kuvert und lege es auf die Konsole an der Tür, damit ich es nicht vergesse.
Jetzt, da ich einmal damit angefangen habe, bekomme ich plötzlich Lust, noch mehr Briefe zu schreiben. Ich würde zum Beispiel Alice gern darlegen, was mich zu meiner Flucht bewogen hat. Ich will, dass sie es versteht. Am liebsten würde ich ihr auch von all meinen Erlebnissen berichten, von den Menschen, die mir begegnet sind, sowie von den zum Teil abenteuerlichen Episoden. Sie würde sich schieflachen, wenn sie wüsste, dass ich in Angélicas Kleidern herumgelaufen bin oder dass ich nun schon zwei Nächte im Wald verbracht habe, beide nur in Begleitung von Lu. Ich glaube, sogar Alice mit ihrer frivolen Art und ihrer lockeren Einstellung zum anderen Geschlecht würde das schockierend finden. Da ich all diese Dinge nicht in einem Brief schreiben kann, der nicht mindestens dreiÃig Seiten lang wäreâ und dazu habe ich keine Zeit mehrâ, lasse ich es ganz bleiben. Irgendwann sehe ich sie wieder und dann kann ich ihr alles persönlich erzählen.
Auch Gustavo würde ich gern einen Brief schreiben. Ich habe mir die Worte, mit denen ich ihm meine Zuneigung gestehen würde, schon im Kopf zurechtgelegt. Bereits bei unserer ersten Begegnung haben Sie groÃen Eindruck auf mich gemacht, würde ich schreiben, denn dass ich ihm gleich meine Liebe erkläre, muss ja nicht sein. Es würde ihn vielleicht verschrecken. Wäre es nicht schön, Sie begleiteten Ihre Schwester Florinda einmal zu uns nach Ãguas Calmas? Es wäre mir eine übergroÃe Freude, Sie wiederzusehen. So oder ähnlich würde ich ihm zu verstehen geben, dass mir sehr viel an ihm liegt, ohne mir dabei eine BlöÃe zu geben. Doch auch diesen Brief schreibe ich nicht, ich spare ihn mir für den Tag auf, an dem meine Mission beendet ist und ich wieder nach Hause kann.
Hoffentlich dauert es nicht mehr allzu lang. Mein Heimweh wird von Tag zu Tag schlimmer, inzwischen vermisse ich sogar schon die Schimpftiraden meiner Mutter und die manchmal schlechten Tischmanieren meines Vaters, der, wenn wir unter uns sind, geräuschvoll aufstöÃt und andere unappetitliche Dinge tut. Und die schönen Seiten meines alten Lebens fehlen mir so sehr, dass es wehtut. Ich denke an die Welpen, die mittlerweile schon ein gutes Stück gewachsen sein müssten und die mit ihren spitzen Milchzähnen alles anknabbern, was ihnen in die Quere kommt. Wehmütig denke ich an Maria mit ihrem groÃen, weichen Herzen und an den gutmütigen Kutscher José, an den betriebsamen Alltag auf der Fazenda und die stillen Stunden am See. Und wie gern würde ich die Gerüche meiner Heimat jetzt schnuppern können! Die saubere Landluft mit ihren grünen Aromen, den süÃlichen Geruch der auf dem Trockenhof ausgebreiteten Kaffeekirschen, den herben Duft von Möbelpolitur und Bohnerwachs in unseren Wohnräumen, die köstlichen Schwaden aus den
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