Januarfluss
nun aber weià ich, was für ein Luxus es ist. Zu Fuà hätten wir dreimal so lange gebraucht und wären müde und verschwitzt angekommen. Ich bezahle den Kutscher von den Münzen, die Lu mir vorsorglich gegeben hat. Der Mann hilft mir aus dem Wagen, bedankt sich artig für das Trinkgeld und reicht Lu die Tasche mit meinen Habseligkeiten.
Im Bahnhofsgebäude kaufe ich eine Karte erster Klasse nach Petrópolis. Ich mache dabei ein ziemliches Theater, sodass die Leute in der Schlange hinter mir schon ungeduldig werden und leise schimpfen. Ich bitte den armen Fahrkartenverkäufer um den besten Platz mit der schönsten Aussicht, frage nach dem Gleis, nach der Dauer der Fahrt, nach den Gegebenheiten am Bahnhof von Petrópolis, erkundige mich, ob es unterwegs die Möglichkeit gibt, etwas zu essen oder zu trinken zu kaufen. Als ich endlich im Besitz meiner Fahrkarte bin, seufzt sogar der Schalterbeamte erleichtert auf.
Kurz darauf kauft Lu eine Fahrkarte nach Barra do PiraÃ, ebenfalls erster Klasse. Sie sei für seinen Herrn, erklärt er dem Verkäufer überflüssigerweise, der ihn nicht eines Blickes würdigt. Dann kommt Lu zu mir zurück, unauffällig vertauschen wir unsere Fahrkarten. Sollte irgendjemand uns gefolgt sein oder auf mich aufmerksam geworden sein, wird er glauben, ich sei unterwegs nach Petrópolis. Die Stadt ist nach dem Kaiser Dom Pedro benannt, der dort seine Sommerresidenz hat, denn in den heiÃesten Monaten des Jahres ist es dort oben in den Bergen immer noch angenehm frisch. Die ganze Hautevolee von Rio verbringt mehrere Wochen im Jahr in Petrópolis, denn es ist natürlich sehr chic, sich dort aufzuhalten, wo sich auch die Kaiserfamilie befindet.
Stattdessen werde ich in die Eisenbahn nach Barra do Piraà steigen, und zwar möglichst unauffällig. Diese erste Hürde scheint mir eine der schwierigsten zu sein: Der Zug fährt genau in die Richtung meiner Heimat, sodass die Möglichkeit besteht, Bekannten über den Weg zu laufen. Sobald ich auf meinem Platz sitze, werde ich mich in ein Buch vertiefen und hoffen, dass keiner die intensiv lesende Senhorita genauer ansieht. Mein Herz pocht heftig. Wie soll ich das nur durchhalten, ganz auf mich gestellt?
» Du schaffst das « , sagt Lu, als hätte er mal wieder meine Gedanken gelesen. » In zwei Tagen sehen wir uns ja schon wieder. «
» Was, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert? Wenn ich schon morgen deine Hilfe benötigen sollte? «
» Das haben wir doch besprochen. Du hast genügend Geld, um von dort zu verschwinden. Dass du dich ganz gut auf eigene Faust durchschlagen kannst, hast du ja bewiesen. Ich habe da gar keine Bedenken. «
» Wie erreiche ich dich? « Merkwürdig, dass ich erst jetzt darauf komme. Der einzige Ort, den man vielleicht als Lus Zuhause bezeichnen könnte, ist diese kleine Hütte im Wald. Aber dort wird ganz gewiss keine Post zugestellt. » Hast du eine Kontaktadresse? «
» Rua Monte Alegre, 15, in Santa Teresa. Bei Senhorita Aldemira dos Santos. «
» Wer ist das? « , rutscht es mir heraus. Ich weiÃ, dass mich das nichts angeht.
» Meine Verlobte. «
» Was?! « Diese Neuigkeit muss ich erst einmal verdauen.
Bilde ich mir das nur ein oder schaut Lu wirklich ein wenig verlegen drein?
» Du musst los « , lenkt er vom Thema ab. Ich blicke zu der groÃen Bahnhofsuhr. Ich habe noch eine Viertelstunde Zeit. Aber der Zug steht bereits auf dem Gleis und ist zum Einsteigen bereit. Ja, es wird das Beste sein, wenn ich jetzt schon meinen Platz einnehme, denn in Lus Gegenwart fühle ich mich mit einem Mal nicht mehr so wohl.
Er begleitet mich in den Waggon, verstaut meine Tasche und nickt mir dann kurz zu. » Halt die Ohren steif « , verabschiedet er sich. Und dann, noch bevor ich ihm einen ähnlich nichtssagenden Rat geben kann, ist er verschwunden. Ich schaue aus dem Fenster und sehe ihn geschmeidigen Schritts davoneilen.
Normalerweise erfasst mich beim Reisen mit der Eisenbahn immer ein ganz besonderer Prickel, eine erregende Vorfreude ähnlich derjenigen, die im Foyer eines Theaters vor einer groÃen Premiere herrscht. Die Reisenden, die Kofferträger, die Züge selbst mit den Schildern, auf denen ihr Fahrtziel angegeben ist, die Hektik am Bahnsteigâ all das löst in mir jedes Mal eine herrlich belebende Mischung aus Fernweh und Abenteuerlust aus. Doch heute ist es
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