Januskopf
aufgehalten hatten, als die Briefbombe bei Elvira Hanf zugestellt wurde. Katinka traute Veit ohne weiteres zu, mit Plastiksprengstoff umzugehen.
Was ist mit Mariele?, raunte das Detektivinnengewissen. Ahnt sie nichts? Ist sie so dumm? Oder weiß sie alles? Und sagt nichts? »Quatsch. Sie kann nichts wissen«, murmelte Katinka.
Sie ging los und stand eine Minute später vor dem Haus der Isensteins. Kurz vor sechs. Die Straße lag leer und verlassen da. Beim Hotel an der Ecke parkte ein Wäschereiwagen. Katinka sah sich um. Aufmerksame Nachbarn gab es hier mehr als genug. Sie zückte den Dietrich und machte sich an der Tür zu schaffen. Dann stand sie im Flur, lauschte ihrem Atem und den Wogen der Panik, die in der Ferne grollten und donnerten. Leise tappte sie die Treppen zu Charlottes Schlafzimmer hinauf. Bestimmt stand die tüchtige Frau Isenstein bald auf. Katinka atmete tief durch, legte die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter.
Charlotte Isenstein lag im Bett und schlief, zwischen die Kissen gekuschelt wie ein Kind.
»Frau Isenstein«, flüsterte Katinka. »Wachen Sie auf. Es ist wichtig!«
Charlotte grummelte im Schlaf, wie es Tom immer tat, wenn er sich weigerte, aufzuwachen.
Nicht denken!
»Frau Isenstein!«
Charlotte drehte sich auf den Rücken und blinzelte.
»Nicht erschrecken!«, sagte Katinka schnell. »Ich bin’s. Katinka Palfy.«
Charlotte ging in die Luft wie eine Skud-Rakete.
»Was fällt Ihnen ein!«
»Es ist dringend, Frau Isenstein«, flüsterte Katinka. Sie setzte sich auf die Bettkante, ohne eine Aufforderung abzuwarten. »Wo waren Sie und Veit am Freitagnachmittag?«
Charlottes Gesicht wurde so weiß wie ein Fleck auf der Landkarte. Im Kontrast mit dem roten Haar sah die Farbe unbekömmlich aus.
»Sie haben«, flüsterte sie und hustete, als sei ihr das Atmen schwer, »Sie haben es herausgefunden?«
Hundert Punkte, dachte Katinka.
»Sie müssen mir sagen, wo Sie waren«, drängte sie.
»Bitte. Sagen Sie es nicht meiner Tochter. Um Gottes willen, sagen Sie es nicht meiner Tochter.«
»Sie lieben Ihre Tochter sehr, nicht wahr?«
»Wir sind die Einzigen in dieser Familie, die zusammenhalten«, murmelte Charlotte. »Die Einzigen.«
»Und Mariele hängt an Ihnen«, drückte Katinka auf die Tube. Mach die Schuldgefühle so stark, dass die befragte Person in akuten Stress gerät! Ein Mensch, der unter Stress steht, verrät die Wahrheit über sich selbst.
»Ja!« Charlotte starrte Katinka entsetzt an. Der Irrsinn der Situation schien ihr jetzt erst bewusst zu werden: Katinka an ihrem Bett wie eine besorgte Krankenschwester, sie selbst verschlafen und mit verquollenem Gesicht.
»Weiß Mariele ...?«, fragte Katinka.
»Um Himmels willen. Bitte nicht. Bitte sagen Sie es nicht Mariele.«
»Ist sie hier? Schläft sie hier im Haus?«
»Oben in ihrem Zimmer. Allein. Keine Angst, sie ist eine Langschläferin. Frau Palfy, ich flehe Sie an ... ich brauche Mariele! Wenn ich sie nicht mehr habe, bin ich ganz allein!«
Katinka fühlte sich vom Mitleid überwältigt. Sie durfte nicht urteilen. Fast machte sich ein Gefühl von Verachtung für Mariele breit, weil sie nicht bemerkte, was um sie herum geschah.
»Wo waren Sie am Freitagnachmittag, Frau Isenstein?«
»Im Labor. Meine Mitarbeiter waren alle weg. Veit wollte um fünf Uhr kommen. Aber er tauchte nicht auf. Mariele rief mich am Abend an, sie sei bei ihrem Vater in Königsberg. Ich habe ... o mein Gott!« Charlotte Isenstein brach in Schluchzen aus, beruhigte sich aber schnell. Hektisch wischte sie sich mit den Fingern über die Lider.
Katinka hob den Kopf und lauschte. Über ihren Köpfen polterte etwas. Charlotte duckte sich instinktiv. Dann war alles still.
»Sie hat eine Katze. Seit Neuestem. Aus dem Tierheim geholt«, erklärte Charlotte.
»Ist Mariele mit Veit gemeinsam nach Königsberg gefahren?«, drängte Katinka.
»Nein. Er hat ihr sein Auto gegeben. Sagte sie. Ewald erzählte am Telefon, Mariele sei allein gekommen.«
Also wäre dieser Punkt abgehakt, dachte Katinka ingrimmig. Veit ist in Zeil ausgestiegen, und Mariele hat darüber Ihrer Mutter gegenüber kein Wort verloren.
»Was haben Sie gemacht, als Veit nicht auftauchte?«
»Ich rief ihn an, aber er ging nicht an sein Handy. Ich blieb im Labor und erledigte Schreibkram.«
»Bis wann waren Sie dort?«
»Vielleicht bis acht oder halb neun. Dann ging ich ins Hoffmanns , gleich bei uns gegenüber.« Sie winkte mit dem Daumen zum Fenster wie eine
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