Januskopf
von Lübeck. Ich kannte keine Seele dort.« Carla setzte sich an den Tisch. »Eines Abends tauchte Bernhard auf. Es war ein sehr warmer Septemberabend, ziemlich genau einen Monat vor Toms Geburt. Er sagte, ich könne doch wieder in die Schule gehen, wenn ich ihm das Kind nach der Geburt gebe. Einfach so.«
Katinka setzte sich.
»Es tut mir leid, Carla«, sagte sie leise. Es kam ihr vor, als sei Carla wieder selbst in ihrer Geschichte, an jenem Septemberabend 1972.
»Stell dir vor, du lebst ein paar Monate bei einer alten Tante. In einem Ort mit dreihundert Einwohnern. Du hast keine Freundin, keinen Rat, kein Verständnis. Meine Tante behandelte mich korrekt. Sie war nett. Nett! Aber ich suchte jemanden, der mich in die Arme nahm und mich tröstete, wenn ich Heimweh hatte, wenn ich an Bernhard dachte. Und ich wollte jemanden haben, der meine Freude teilte, wenn ich meinen Bauch ansah oder spürte, wie das Baby sich bewegte. Da war nichts. Nichts. Grenzenlose Leere.«
Katinka drehte die Milchtüte in ihren Fingern.
»Er teilte mir mit, er sei verlobt und werde heiraten. Seine Zukünftige wäre bereit, das Kind zu sich zu nehmen und aufzuziehen.«
»Schwein«, sagte Katinka.
»Nein, Katinka. Er war gefangen, genauso wie ich. O.k., er war älter und hätte mehr Feinfühligkeit aufbringen müssen. Meine Eltern hatten ihn ausfindig gemacht und zu mir geschickt. Sie haben das Ganze eingefädelt. Hätten sie zu mir gehalten, hätte ich es geschafft, hätte das Baby behalten und aufgezogen. Aber sie lehnten uneheliche Kinder ab. Für sie war Bernhards Angebot die Ideallösung.«
Carla machte eine Pause. Eine lange Pause, Katinkas Gedanken schweiften ab.
»Tom war eine leichte Geburt«, fuhr Carla fort. »Ich sah mir das Kind an und gab es weg. Ich wollte mein altes Leben zurück. Ich wollte Abitur machen und einen Beruf lernen, allein für mich sorgen. Ich wollte in meinem hormonverdrehten und trotzigen Denken meinen Eltern zeigen, was in mir steckt. Wir alle wollen es unseren Eltern beweisen. Und richten uns nach ihren Maßstäben von Sieg und Niederlage. Wie albern. Sieg und Niederlage sind nur zwei willkürliche Begriffe. Sie stützen jene, die ohnehin Macht haben. Und treten die in den Dreck, deren Lebensgeschichte niemand achtet.«
»Hast du Tom nie wieder gesehen – bis jetzt?«, fragte Katinka.
»Doch. Einmal. Bernhard schickte mir ab und zu Fotos von meinem Sohn.« Carla schüttelte den Kopf, als könne sie es nicht glauben. »Die ersten Jahre habe ich alles ignoriert. Ich habe die Fotos weggeworfen und die Briefe zerrissen. Ich habe nie geantwortet. Aber dann fuhr ich nach Lichtenrade, ganz in den Süden Berlins, wo die Thieles damals lebten, an Toms sechstem Geburtstag. Ich sah ihn zur Schule gehen – einen schmächtigen blonden Kerl mit einem riesigen Ranzen – und wäre am liebsten in diesem Moment tot zusammengesunken. Von da an versuchte ich nie mehr, ihn wiederzusehen, aber an seinen Geburtstagen dachte ich an ihn. Ich kaufte sogar Blumen.«
»Tom wusste nichts von dir«, sagte Katinka.
»Ja. Hat er mir gesagt. Bis Bernhards Frau vor einem Jahr den Schlaganfall hatte. In seiner Sorge um sie hat Bernhard ausgepackt.«
Katinka erinnerte sich nur zu gut an Toms Verwirrung, als er aus Berlin zurückgekommen war.
»Und deine Eltern?«, fragte sie.
»Sie sind schon lange tot. Mein Vater starb an einem Herzinfarkt, als ich dreißig war. Meine Mutter litt an ihrer Einsamkeit und ihrer Arthrose, die beinahe all ihre Gelenke lahmlegte. Man liest manchmal, Arthrose habe mit innerer Steifheit zu tun und einer Geisteshaltung, die alles und jedes kritisiert. Ich habe sie selten besucht. Sie starb zehn Jahre später.«
Katinka rechnete nach. Carla war einundfünfzig Jahre alt.
»Warum hattest du keine Kinder mehr?«, fragte sie.
»Weil ich keinen Mann fand, mit dem ich welche hätte haben wollen«, sagte sie. Sie wischte ungeduldig die Tränen von ihren Wangen. »Egal. Jetzt gehen wir. Was hast du vor?«
Katinka stellte die Milchtüte weg.
»Ich muss das alleine machen«, sagte sie.
»Sag erst, was du vorhast.«
»Ich weiß es nicht genau«, sagte Katinka zögernd. »Aber ich glaube, ich muss mir Ewald genauer unter die Pupille nehmen.«
»Ewald? Solltest du nicht zu seiner Entlastung ermitteln?«
»Mag sein, dass seine Frau sich täuscht. Er ist zweimal auffällig geworden, weil er Frauen an die Kehle ging und sie würgte.« Katinka berichtete kurz von Brittas Hinweis. »Ich kann das nicht
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