Janusliebe
Film ein, um gegen fünf Uhr von einer trällernden,
leicht beschwipsten Daphne geweckt zu werden, die auf dem Weg zu ihrem Zim-
mer an jedes Möbelstück stieß, das in der Wohnung herumstand.
Als Carry am Morgen aufwachte, fühlte sie sich wie zerschlagen. Lustlos berei-
tete sie sich ein Frühstück, lustlos fuhr sie zur Arbeit und lustlos ging sie die Post
durch, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelte. Es waren immer dieselben Mittei-
lungen. Zuerst einmal ein Schwall Werbung, dann alle möglichen Unternehmen,
Künstler, Theater und andere Amüsiertempel, die auf ihre neuesten Werke oder
Attraktionen aufmerksam machten, dann die ebenfalls üblichen Leserbriefe, die
ihre Artikel lobten oder abstraften, sowie eine Flut von Einladungen zu allen mög-
lichen Veranstaltungen.
Alles, was Carry überhaupt nicht interessierte, wanderte sofort in den Papier-
korb. Den Rest teilte sie auf in «könnte interessant sein» und «muss ich unbedingt
recherchieren/besuchen».
Sie riss den nächsten Umschlag auf, während sie gleichzeitig die Mails check-
te, die während ihrer Abwesenheit eingetroffen waren. Ihre Hand fuhr in den
Umschlag, im nächsten Moment stieß Carry einen gellenden Schrei aus. Der Um-
schlag flog im hohen Bogen durchs Büro und landete auf Robbys Schreibtisch, der
daraufhin verdattert aufblickte.
Carry stand vor ihrem Tisch und schrie in den schrillsten Tönen. Dazu trampel-
te sie wie ein aufgebrachtes Kind, das seinen Dickkopf durchsetzen will, und schüt-
telte ihre Hände, als klebte ihr etwas an den Fingern, das sie loswerden wollte.
Robby begriff zunächst gar nichts. Er sah zwar den Umschlag vor sich liegen
und die tobende kreischende Carry, die sich immer toller gebärdete, aber er brach-
te die Dinge nicht miteinander in Einklang. Irgendwie hakte ein Rädchen in sei-
nem Gehirn. Doch dann, ganz plötzlich gab es einen Ruck, das Rädchen lief weiter
und Robby griff nach dem Umschlag. Er sah kurz hinein, dann warf er ihn ebenso
angewidert von sich wie zuvor schon seine Kollegin Carry. Mit wenigen Schritten
war er bei ihr, umfasste mit beiden Händen ihre Schultern und schüttelte sie.
«Es ist gut!», schrie er sie an. Carry hörte tatsächlich auf zu schreien und zu
trampeln. Robby spürte, dass sie am ganzen Körper zitterte.
«Es ist gut», sagte er noch einmal und zog sie an seine Brust. «Das war nichts
als ein ganz gemeiner Streich. Denk nicht mehr dran. Komm, wir gehen raus, ein
bisschen an die frische Luft. Das wird dir guttun.»
Viola Tend kam aus ihrem Büro. Mit einer Kopfbewegung deutete Robby auf
den Umschlag, der neben seinem Tisch auf dem Fußboden lag. Viola sah hinein
und prallte entsetzt zurück.
«Das ist ja – ekelhaft!» Sie sah zu Robby und Carry, die sich zitternd an ihn
klammerte. «Wann ist das gekommen?»
«Es war in der heutigen Frühpost», gab Robby Antwort.
Viola hob den Umschlag mit spitzen Fingern auf und besah ihn von allen Sei-
ten, wobei sie ihn allerdings weit von sich weg hielt.
«Kein Absender», stellte sie fest, ihr Gesicht drückte immer noch Abscheu aus.
«Ich rufe den Ordnungsdienst. Die sollen die Sauerei wegräumen.»
Inzwischen waren auch die Kollegen aus den anderen Büros aufmerksam gewor-
den. Sie kamen heran, umstanden die Schreibtische und sahen neugierig auf den
Umschlag, den Viola immer noch zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe
hielt. «Sollten wir nicht besser die Polizei verständigen?», fragte Robby vorsichtig.
«Ach, was!» Viola schickte ihm einen ärgerlichen Blick. «Das ist irgend so ein
blöder Leserstreich. Wenn wir anfangen, jedem miesen Brief nachzujagen, der uns
in die Redaktion flattert, können wir eine eigene Detektei beschäftigen.»
Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche, tippte eine Nummer ein und gab dem
diensthabenden Leiter der House-Security ihre Anweisung.
«Bringen Sie Miss Wright am besten irgendwohin, wo sie sich von ihrem
Schrecken erholen kann», befahl Viola dem gutmütigen Robby, nachdem sie ihr
Gespräch beendet hatte. «Am besten geben Sie ihr einen ordentlichen Schluck
Brandy, der hilft ihr wieder auf die Beine.»
«Ich hab das angefasst», wimmerte Carry, wobei sie ihre Hände ausstreckte
und sie betrachtete, als gehörten sie gar nicht zu ihr. «Oh Gott, Robby, ich muss sie
unbedingt waschen.»
Sie riss sich los und rannte aus dem Büro, bevor Robby sie aufhalten konnte.
Viola sah ihr stirnrunzelnd hinterher.
«Na ja, es ist wirklich eine eklige
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