Jasmin - Roman
entscheiden musste, stellte ich meinen Willen hinter den meines Vaters zurück, der meine Hilfe brauchte, um die Familie zu ernähren. Ich begehrte nicht auf und beharrte nicht auf meiner Meinung, ich packte meine ganze Habe in einem Rucksack zusammen - ein bisschen Kleidung und Bücher, Hefte und ein Tagebuch - und verließ den Ort.
Sonja, unsere von allen angebetete Leiterin der Jugendgemeinschaft, verfolgte mich bis ins Lager, bombardierte mich mit Briefen, machte mir das Herz schwer mit ihren Vorhaltungen und bürdete mir das Kreuz der Schuldgefühle auf. Sie fand sich nie mit meinem Weggang ab, so wie sich meine Mutter nie mit der betrüblichen Tatsache abfand, dass ich weder Rabbiner noch Thora-Gelehrter wurde.
Nun stand ich an den Toren des Kibbuz und zögerte, die Schwelle zu passieren. In ihren Augen bedurfte ich wohl der Bekehrung wie ein Ungläubiger in den Augen eines Religiösen. Wieso lösten sie immer noch diese glühenden Schuldgefühle in mir aus? Ich stammte nicht aus dem Kibbuz. Ich war ein Flüchtling, ein Junge von draußen, ein Übernachtungsgast. Ich war zufällig zu ihnen gestoßen. Ich hätte auch in ein religiöses Jugenddorf oder sogar in eine Jeschiva geschickt werden können, wie meine Mutter es wollte. Weshalb glaubte ich also, ein Schandmal auf meiner Stirn zu tragen?
Ich drückte aufs Gaspedal und fuhr in die Allee. Die Gerüche nach Silo und Ställen, die Blumenbeete und die Myrtenhecken, die beängstigende Stille und Sauberkeit sickerten in mich ein wie damals. Jasmin streichelte schweigend meinen Nacken.
Noa, die Frau von Chagi, der mich zu dem Vortrag eingeladen hatte, wartete neben dem Speisesaal auf mich. Anfangs war sie überrascht, da ich ihr nicht mitgeteilt hatte, dass ich mit einer Freundin kommen würde, doch sie fasste sich sofort und lächelte vielsagend.
»Noa, darf ich dir Jasmin vorstellen. Sie ist Orientalistin, forscht über den israelisch-arabischen Konflikt an der Sorbonne«, sagte ich.
»Sehr erfreut. Auch Chagi, mein Mann, ist Orientalist, du wirst ihn noch kennenlernen«, wandte sie sich an Jasmin und drückte ihre Hand. Noa war ein wenig voller geworden und noch schöner. Ihr Haar war elegant im Nacken zusammengefasst, ihr Rücken von beeindruckend aufrechter Haltung, und warme Herzlichkeit strahlte aus ihren Augen. Die Jahre hatten es gut mit ihr gemeint. Schon damals war sie ein gepflegtes und hübsches Mädchen gewesen, das auch durch seine sorgfältig gewählte Kleidung hervorstach. Sie liebte bunte Blusen, anmutige Tücher um den Hals und knappe weiße Tennisshorts.
Noa führte uns ins Lager, holte Bettzeug und Handtücher für
uns und ging mit uns den Zypressenpfad zur Gästewohnung hinauf. Rosaviolett blühten die Jacarandas um uns herum.
Jasmin weidete ihre Augen an der üppig wuchernden Flora und sagte zu Noa, auf Hebräisch, dass dies ihr erster Besuch im Kibbuz sei.
»Was für ein perfektes Hebräisch du sprichst! Ohne jeden ausländischen Akzent«, staunte Noa.
»Ich bin in Israel geboren«, erwiderte Jasmin.
»Wohin sind der Obst- und Gemüsegarten und die Olivenhaine verschwunden?«, fragte ich.
»Die Zeiten haben sich geändert«, antwortete Noa. »Der Obstund Gemüsegarten wurde aufgelöst, und die Olivenhaine haben wir gerodet und in landwirtschaftliche Flächen für den Kuh- und den Hühnerstall umgewandelt. Das Gemüse und Obst aus dem Westjordanland ist heutzutage so billig, dass es sich nicht lohnt, nur um des Zionismus willen einen Obst- und Gemüsegarten zu unterhalten.«
Die Gästewohnung, mit anderthalb Räumen, war mit mönchischer Bescheidenheit ausgestattet, sauber und angenehm. Auf dem Tisch stand ein Körbchen mit Früchten, und in der Küche lagen Tütchen mit Tee, Kaffee und Zucker bereit, neben Keksen und Saft und Sodaflaschen. Noa ging in die Dusche und öffnete den Wasserhahn: »Schön, alles da, auch warmes Wasser. Das Bettzeug und die Handtücher liegen auf dem Sofa. Das Abendessen ist um sieben, wir erwarten euch am Eingang zum Speisesaal.« Und damit ging sie.
»Was für ein beeindruckendes Etikett du mir verliehen hast, sie ›forscht über den israelisch-arabischen Konflikt an der Sorbonne‹!«, lachte Jasmin. »Nicht mehr und nicht weniger!«
Die vollkommene Ruhe und das vertraute, hübsche Gurren der Tauben umgaben mich wie ein altes Wiegenlied. »Versuch ein bisschen zu schlafen. Wir haben einen langen Abend vor uns«, küsste mich Jasmin und ging duschen.
Ich atmete kaum, lauschte auf jedes
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