Jasmin - Roman
pflegte er nach Art der Kurzsichtigen die Brille auf die Stirn zu schieben und die Zettel dicht vor seine Augen zu halten. Er bat mich, Fakten über die Probleme der arabischen Bevölkerung in Israel generell und in Nazareth im Besonderen aufzubereiten ebenso wie Stichwörter für die Rede des Regierungschefs, und übertrug mir die Koordination aller für den Besuch nötigen Vorbereitungen. Ich arbeitete Tag und Nacht durch, genoss das berauschende Gefühl, dass ich im Namen des Staates tätig war und dass mir alle bereitwillig und freundlich entgegenkamen. Ich fuhr schon früher nach Nazareth, um Eschkol bei seinem Eintreffen zu empfangen. Am Besuchstag wartete ich aufgeregt mit dem Bürgermeister und den Honoratioren am Stadteingang. Nazareth war festlich geschmückt und herausgeputzt, Schüler standen zu beiden
Seiten der Straße und jubelten, die Führer der religiösen Gemeinden überschütteten ihn mit Ehrbezeugungen in den Kirchen und Moscheen, wie es einem solch hochrangigen Mann gebührte. »Zu viel der Schmeichelei«, hörte ich den amtierenden Minister Levana ins Ohr flüstern, worauf sie in ihrer ruhigen Art leise erwiderte: »Und die Juden schmeicheln Ihnen nicht?«
Nach dem feierlichen Mittagessen wurde mit der offiziellen Zeremonie begonnen. Der Oppositionsführer der Stadt, ein Kommunist, der bekannt war für seine heftige Kritik an der Regierung, stand auf, um seine Rede vorzutragen. Gleich am Anfang seiner Rede stützte Eschkol seinen Kopf in die Hand und schloss die Augen. Was für eine Schande, dachte ich bei mir.
»Der Ministerpräsident ist eingeschlafen. Das wird die Araber beleidigen, und er wird nichts zu erwidern wissen. Alles, was wir gemacht haben, ist umsonst. Unternehmen Sie etwas«, flüsterte ich dem Amtschef zu, der neben mir saß.
»Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun?«
»Gehen Sie, und wecken Sie ihn, geben Sie ihm ein Glas Wasser, einen Zettel, ich weiß nicht, irgendetwas.«
»Beruhigen Sie sich, junger Freund, nur mit der Ruhe.«
Doch ich konnte mich nicht beruhigen. Bang und traurig beobachtete ich die arabischen Gäste, deren Gesichter lang wurden. Nach Abschluss der Rede öffnete Eschkol die Augen, blickte die rechts und links auf dem Podium Sitzenden an, richtete seinen Blick gerade in den Saal, erhob sich und begann, auf die Argumente des Redners punktgenau einzugehen, erschöpfende und überzeugende Erwiderungen, mit massiven Tatsachen untermauert. Es gab keine Forderung oder Behauptung, auf die er sich nicht bezogen hätte, er bekannte auch ein oder zwei Versäumnisse, gelobte deren Verbesserung und eroberte die Herzen seiner Zuhörer im Sturm.
Der Amtschef stupste mich strahlend vor Zufriedenheit mit dem Ellbogen an: »Sehen Sie? Wenn sich die alten Genossen der Arbeiterpartei konzentrieren wollen, schließen sie die Augen.«
Und nun war es mir wieder vergönnt, zum Gefolge des Ministerpräsidenten zu zählen, diesmal bei seinem ersten Besuch Ostjerusalems. Levana und der Regierungssprecher schlossen sich mir an, und wir warteten gemeinsam im Auto des Ministers, bis dieser mit dem Regierungschef herauskam.
In der Altstadt empfingen uns der Sicherheitsminister, der Generalstabschef, der Bürgermeister und weitere Würdenträger. Wir gingen durch die gewundenen Gassen zur Klagemauer. Eschkol betrachtete fröhlich und entspannt seine Umgebung, doch je länger der Marsch dauerte, desto mehr veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er wirkte betroffen und verwundert, sogar traurig, hauptsächlich aber nachdenklich. Zahllose Augen waren von beiden Seiten des Weges auf ihn geheftet, bekümmerte Augen, schweigende Augen in verhaltenem Zorn. Für einen Moment, nahe der Klagemauer, erhielt er Applaus von einer Gruppe jüdischer Betender, und er hob seine linke Hand und formte das V-Zeichen.
»Sie zeigen ›V‹ for victory?«, fragte der Amtschef.
Eschkol blickte ihn an, und sein Lächeln erlosch: »Nein, das ist das ›w‹ von ›wi kricht man arois‹, das heißt, wie kommt man da wieder raus?«
Dieser Satz von Eschkol und sein überraschendes Verhalten auf dem Gang zur Klagemauer ließen mir keine Ruhe. Welche Nüchternheit inmitten der Euphorie, die uns alle überflutete! Welche Nachdenklichkeit inmitten des Siegesdonners! Ich habe mich immer wieder gefragt, was er damals damit meinte. Meinte er, so wie es zu dem Zeitpunkt aussah, nur die uns bevorstehende schwierige Auseinandersetzung mit den vielfältigen Problemen, die er vom ersten Moment an zu sehen
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