J.D.SALINGER Neun Erzählungen
verweilen (und sie wurden tatsächlich ein wenig schmerzlich), zum Thema vom ältesten und liebsten Freund meiner Eltern: Pablo Picasso. Le pauvre Picasso, wie ich ihn bezeichnete. (Ich wählte Picasso, sollte ich vielleicht erwähnen, weil er mir als der in Amerika bekannteste französische Maler erschien. Kanada betrachtete ich rundheraus als Teil Amerikas.) Um M. Yoshotos willen erinnerte ich mich mit viel theatralischem Mitgefühl für einen gefallenen Riesen, wie oft ich zu ihm gesagt hatte: » M. Picasso, o ù allez - v ous ? «, und wie der Meister in seiner Antwort auf diese alles durchdringende Frage unfehlbar langsam, bleiern durch sein Studio schritt, um eine kleine Reproduktion seiner »Gaukler« zu betrachten und seinen Ruhm, den er eingebüßt hatte. Das Dumme an Picasso sei gewesen, erklärte ich M. Yoshoto, als wir aus dem Bus stiegen, dass er auf niemanden hörte – nicht einmal auf seine engsten Freunde.
1940 hatten Les Amis Des Vieux Maîtres Räume im ersten Stock eines kleinen, äußerst bescheiden wirkenden dreistöckigen Gebäudes – eigentlich ein Mietshaus – im Verdun, also dem reizlosesten Viertel Montreals. Die Schule lag direkt über einem Geschäft mit Sanitätsartikein. Ein großes Zimmer und ein winziger, schlossloser Abort, mehr war Les Amis Des Vieux Maîtres nicht. Dennoch erschien mir der Raum, kaum dass ich ihn betreten hatte, auf wundersame Weise präsentabel. Das hatte einen guten Grund. An den Wänden des »Unterrichtsraums« hingen zahlreiche gerahmte Bilder – alles Aquarelle – von M. Yoshoto. Noch immer träume ich hin und wieder von einer bestimmten weißen Gans, die über einen äußerst hellblauen Himmel fliegt, wobei – und das war eine der gewagtesten und versiertesten Leistungen handwerklichen Könnens, die mir je begegnet waren – das Blau des Himmels oder die Idee vom Blau des Himmels sich im Gefieder des Vogels spiegelten. Das Bild hing unmittelbar hinter Mme. Yoshotos Schreibtisch. Es rettete das Zimmer – dieses und ein, zwei weitere Bilder, die ihm an Qualität nahekamen.
Mme. Yoshoto, in einem schönen Kimono aus schwarzer und kirschroter Seide, fegte gerade, als M. Yoshoto und ich das Lehrerzimmer betraten, mit einem kurzstieligen Besen das Zimmer. Sie war eine grauhaarige Frau, bestimmt einen Kopf größer als ihr Mann, und ihre Gesichtszüge wirkten eher malaiisch denn japanisch. Sie hörte auf zu fegen und kam herbei, und M. Yoshoto stellte uns kurz vor. Sie wirkte auf mich ganz genauso unergründlich wie M. Yoshoto, wenn nicht noch mehr. Dann schlug M. Yoshoto vor, mir mein Zimmer zu zeigen, aus dem, wie er mir (auf Französisch) erklärte, erst unlängst sein Sohn ausgezogen sei, der nach British Columbia gegangen sei, um auf einer Farm zu arbeiten. (Nachdem er so lange im Bus geschwiegen hatte, war ich dankbar dafür, dass er nun einigermaßen zusammenhängend redete, und ich hörte ziemlich begierig zu.) Er entschuldigte sich, dass es im Zimmer seines Sohnes keinen Stuhl gebe – nur Sitz k issen – , doch rasch gab ich ihm zu verstehen, dass dies für mich kaum weniger als ein Geschenk des Himmels sei. (Ich glaube sogar, gesagt zu haben, ich fände Stühle abscheulich. Ich war so nervös, dass ich, hätte er mir mitgeteilt, das Zimmer seines Sohnes stehe Tag und Nacht einen halben Meter unter Wasser, wahrscheinlich einen kleinen Freudenschrei ausgestoßen hätte. Wahrscheinlich hätte ich gesagt, ich hätte eine seltene Fußkrankheit, die es erforderlich mache, dass ich meine Füße acht Stunden täglich feucht hielt.) Dann führte er mich eine knarrende Holztreppe zu meinem Zimmer hinauf. Dabei erzählte ich ihm ziemlich demonstrativ, dass ich Buddhismus studierte. Später erfuhr ich, dass er wie auch Mme. Yoshoto Presbyterianer waren.
Tief in der Nacht, ich lag wach im Bett, und Mme. Yoshotos japanisch - m alaiisches Abendessen machte sich noch immer massiv bemerkbar, indem es wie ein Fahrstuhl mein Brustbein auf und abwärts fuhr, stöhnte, unmittelbar auf der anderen Seite meiner Wand, der eine oder die andere der Yoshotos im Schlaf. Es war ein hohes, dünnes, gebrochenes Stöhnen, und es schien weniger von einem Erwachsenen zu stammen als entweder von einem tragischen, schwachsinnigen Kleinkind oder einem kleinen, missgebildeten Tier. (Es wurde zu einer regelmäßigen nächtlichen Darbietung. Nie habe ich herausgefunden, von welchem der Yoshotos es kam, schon gar nicht, warum.) Als es ganz unerträglich wurde, es im Liegen zu
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