J.D.SALINGER Neun Erzählungen
waren, die Unterrichtsmethode der Schule (oder vielmehr ihre nicht existente Unterrichtsmethode). Nachdem er zu seinem Schreibtisch zurückgekehrt war, dauerte es mehrere Minuten, bis ich mich wieder gefasst hatte.
Alle drei mir zugewiesenen Schüler waren englischsprachige Studenten. Der erste war eine dreiundzwanzig Jahre alte Hausfrau aus Toronto, die sagte, ihr Künstlername sei Bambi Kramer, und die der Schule mitteilte, sie s olle ihre Post entsprechend adressieren. Alle neuen Schüler von Les Amis Des Vieux Maîtres wurden gebeten, einen Fragebogen auszufüllen und eine Fotografie von sich beizulegen. Miss Kramer hatte einen 20x25 großen Hochglanzabzug von sich beigelegt, auf dem sie ein Fußkettchen, einen trägerlosen Badeanzug und eine Matrosenmütze trug. Auf ihrem Fragebogen erklärte sie, ihre Lieblingskünstler seien Rembrandt und Walt Disney. Sie schrieb, sie hoffe nur, es ihnen eines Tages gleichtun zu können. Ihre Probezeichnungen waren ziemlich nebensächlich an ihr Foto geklemmt. Alle waren sie beeindruckend. Eine davon war unvergesslich. Die unvergessliche war in schwülstigen Tuschfarben gehalten, und die Unterschrift lautete: »Vergib ihnen ihre Schuld«. Die Zeichnung stellte drei kleine Jungen dar, die in einem merkwürdigen Gewässer angelten, eine ihrer Jacken hing über einem »Angeln verboten! « - Schild. Der größte Junge, im Vordergrund des Bildes, hatte an einem Bein offenbar Rachitis und am anderen Elefantiasis – ein Effekt, den, so viel war klar, Miss Kramer bewusst eingesetzt hatte, um zu zeigen, dass der Junge ein bisschen breitbeinig dastand.
Mein zweiter Schüler war ein sechsundfünfzigjähriger »Gesellschaftsfotograf« aus Windsor, Ontario, namens R. Howard Ridgefield, der schrieb, seine Frau liege ihm seit Jahren in den Ohren, er solle in die Malerei wechseln. Seine Lieblingskünstler waren Rembrandt, Sargent und »Titan«, doch er fügte noch mit Bedacht hinzu, er lege keinen Wert darauf, in dieser Richtung zu zeichnen. Er schrieb, am meisten interessiere ihn weniger die künstlerische als vielmehr die satirische Seite der Malerei. Zur Untermauerung dieses Credos hatte er eine erkleckliche Anzahl von Originalzeichnungen und Ölgemälden beigelegt. Eines seiner Bilder – dasjenige, das ich für sein Haupt w erk halte – ist mir nach all den Jahren ebenso erinnerlich wie, sagen wir, der Text von »Sweet Sue« oder »Let Me Call You Sweetheart«. Es war eine satirische Darstellung der vertrauten, alltäglichen Tragödie eines keuschen jungen Mädchens mit über s chulterlangen blonden Haaren und eutergroßen Brüsten, das in der Kirche, geradezu im Schatten des Altars, von ihrem Pfarrer vergewaltigt wird. Die Kleider beider Figuren waren auf drastische Weise in Unordnung geraten. Eigentlich beeindruckten mich viel weniger die satirischen Implikationen des Bilds als das handwerkliche Können, das sich darin zeigte. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie Hunderte von Meilen voneinander entfernt wohnten, hätte ich geschworen, Ridgefield hätte eine rein technische Unterstützung von Bambi Kramer erhalten.
Außer unter ziemlich seltenen Umständen, in Krisen etwa, als ich neunzehn war, zeichnete sich mein Musikantenknochen stets dadurch aus, dass er als allererster Teil meines Körpers teilweise oder vollständig gelähmt war. Ridgefield und Kramer machten vieles mit mir, aber sie amüsierten mich nicht auch nur annähernd. Drei - , viermal, als ich ihre Umschläge durchging, war ich versucht, aufzustehen und bei M. Yoshoto förmlichen Protest einzulegen. Allerdings hatte ich keine klare Vorstellung davon, welche Form mein Protest haben könnte. Ich glaube, ich hatte Angst, ich könnte zu seinem Schreibtisch gehen, nur um schrill zu berichten: »Meine Mutter ist tot, und ich muss mit ihrem charmanten Ehemann leben, und in New York spricht niemand Französisch, und im Zimmer ihres Sohns gibt es keine Stühle. Wie können Sie da von mir erwarten, dass ich diesen beiden Verrückten Zeichnen beibringe ?« S chließlich schaffte ich es, da lange darin geübt, Verzweiflung hinzunehmen, doch sehr leicht , sitzen zu bleiben. Ich öffnete den Umschlag meines dritten Schülers.
Mein dritter Schüler war eine Nonne vom Orden der Schwestern von St. Joseph namens Schwester Irma, die an der Grundschule eines Klosters vor den Toren Torontos »Kochen und Zeichnen« unterrichtete. Und ich habe überhaupt keine guten Ideen, wo ich anfangen soll, den Inhalt ihres Umschlags zu
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