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J.D.SALINGER Neun Erzählungen

Titel: J.D.SALINGER Neun Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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der Woche verbrachte ich auf einem Zahnarztstuhl, auf dem mir innerhalb von einigen Monaten acht Zähne gezogen wurden, darunter drei vordere. Die anderen beiden Nachmittage verbrachte ich für gewöhnlich in Kunstgalerien, hauptsächlich in der Fifty - s eventh Street, wo ich die amerikanischen Exponate beinahe auszischte. Abends las ich in der Regel. Ich kaufte eine komplette Ausgabe der Harvard Classics – hauptsächlich, weil Bobby sagte, wir hätten dafür nicht genügend Platz in unserer Suite – und las perverserweise sämtliche fünfzig Bände. Nachts stellte ich fast stets meine Staffelei zwischen den beiden Einzelbetten in dem Zimmer auf, das ich mit Bobby teilte, und malte. In einem einzigen Monat vollendete ich, meinem Tagebuch von 1939 zufolge, achtzehn Ölgemälde. Erwähnt werden sollte, dass siebzehn davon Selbstporträts waren. Manchmal jedoch, wahrscheinlich, wenn meine Muse kapriziös war, legte ich die Farben beiseite und zeichnete Karikaturen. Eine habe ich noch heute. Sie zeigt die höhlenartige Ansicht vom Mund eines Mannes, der von seinem Zahnarzt behandelt wird. Die Zunge des Mannes ist ein schlichter Hundertdollarschein des US - Finanzministeriums, und der Zahnarzt sagt traurig auf Französisch: »Ich glaube, den Backenzahn können wir retten, aber die Zunge muss leider raus .« D ie Karikatur mochte ich besonders.
    Als Zimmergenossen waren Bobby und ich auch nicht kompatibler als, sagen wir, ein besonders leben - u nd - l eben - l assen - m äßiges Letztsemester aus Harvard und ein besonders unangenehmer Zeitungsjunge aus Cambridge. Und als wir im Laufe der Wochen allmählich herausfanden, dass wir beide dieselbe verstorbene Frau liebten, machte das die Sache auch nicht besser. Vielmehr erwuchs aus dieser Entdeckung eine grässliche kleine »Nach Ihnen, Alphonse« – Beziehung. Wir begannen, einander munter zuzulächeln, wenn wir uns auf der Schwelle zum Badezimmer begegneten.
     
    In einer Woche im Mai des Jahres 1940, ungefähr zehn Monate, nachdem Bobby und ich im Ritz abgestiegen waren, sah ich in einer Quebecer Zeitung (einer von sechzehn französischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, deren Abonnement ich mir gegönnt hatte) eine kleine Anzeige, die von der Direktion einer Montrealer Fern - Kunsthochschule aufgegeben worden war. Sie forderte alle qualifizierten Lehrer auf – sie sagte sogar im Grunde, sie könne sie nicht fortement genug dazu auffordern – , sich unverzüglich um eine Anstellung an der neuesten, progressivsten Fern – Kunsthochschule Kanadas zu bewerben. Lehrerkandidaten, so die Bedingung, müssten in der französischen wie auch der englischen Sprache flüssig sein, und nur Personen mit maßvollen Gewohnheiten und untadeligem Charakter könnten sich bewerben. Der Sommerkurs bei Les Amis Des Vieux Ma î tres sollte offiziell am 10 . Juni beginnen. Arbeitsproben, hieß es, sollten sowohl den akademischen wie auch den kommerziellen Bereich der Kunst repräsentieren und bei Monsieur I. Yoshoto, directeur , vormals an der Kaiserlichen Akademie der Schönen Künste zu Tokio, eingereicht werden.
    Sogleich zog ich, denn ich fühlte mich beinahe unerträglich qualifiziert, Bobbys Hermes – Baby – Schreibmaschine unterm Bett hervor und schrieb auf Französisch einen langen, maßlosen Brief an M. Yoshoto – wofür ich alle meine Vormittagsstunden an der Kunsthochschule in der Lexington Avenue ausfallen ließ. Mein einführender Absatz ging über rund drei Seiten und qualmte fast schon. Ich schrieb, ich sei neunundzwanzig und ein Großneffe Honoré Daumiers. Ich schrieb, ich hätte gerade, nach dem Tode meiner Frau, mein kleines Gut in Südfrankreich verlassen, um in Amerika – vorübergehend, wie ich klarstellte – bei einem gebrechlichen Verwandten zu leben. Ich malte, schrieb ich, seit frühester Kindheit, hätte aber auf den Rat Pablo Picassos hin, der einer der ältesten und liebsten Freunde meiner Eltern sei, nie ausgestellt. Allerdings hingen eine Anzahl meiner Ölgemälde und Aquarel l e in einigen der ersten und keinesfalls nouveau riche Häuser von Paris, wo sie bei einigen der ernstzunehmendsten Kritiker unserer Zeit beträchtliches Aufsehen gagné hätten. Ich schrieb, nach dem vorzeitigen und tragischen Tod meiner Frau an einer ulcération cancére us e hätte ich ernstlich geglaubt, nie wieder den Pinsel auf eine Leinwand zu setzen. Doch jüngste finanzielle Verluste hätten mich bewogen, meine feste résolution zu ändern. Ich schrieb, ich würde

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