Je länger, je lieber - Roman
Mit einem Mal wirkte sie seltsam alarmiert.
Ohne auf Margaretes Frage einzugehen, schob Mimi das Kästchen in die Mitte des Tisches. »Weißt du, was es damit auf sich hat? Da ist ein Name eingeritzt: Jacques. Wer ist das?«
Eilig schüttelte Margarete den Kopf. »Nie gehört.«
»Wirklich nicht?«
»Nein.« Die Haushälterin strich sich die Schürze über den Knien glatt und sah mit leicht gerötetem Gesicht hinaus in den Garten. Wie ein braves Schulmädchen, das vom Lehrer beim Spicken erwischt worden war. »Vielleicht ein alter Freund aus Kindertagen. Im Alter kehren wir alle mehr und mehr in die Kindheit zurück, wie in einen Raum, der all die Jahre geduldig auf unsere Rückkehr gewartet hat.«
Mimi rührte in ihrem Kaffee herum und fragte möglichst unvoreingenommen, um Margaretes Redefluss in die gewünschte Richtung zu lenken: »Und welche Bedeutung hat der Kompass für sie?«
»Vermutlich ebenfalls ein Relikt aus Kindertagen.«
Wieso tauchte dieses Kästchen jetzt erst auf? Mimi hatte ihn nie zuvor bei ihrer Großmutter gesehen. Welche Geschichte verband sie damit? Hatte er am Ende etwas mit Claras plötzlich auftretenden Herzbeschwerden zu tun? Mimi versuchte es ein letztes Mal. »Beschäftigt meine Großmutter etwas?«
Margarete stand vom Tisch auf. »Nichts. Gar nichts. Sie ist alt. Ihr Herz macht nicht mehr so mit. Das ist alles.«
Diese beinahe achtzigjährige Frau mit der Kraft einer Giraffe verheimlichte Mimi etwas. Und dieses Etwas hatte mit dem Kompass zu tun. Und mit einer unerledigten Geschichte, von der Clara Mimi in der letzten Nacht hatte erzählen wollen. Mimi nickte. »Am besten, ich frage meine Großmutter einfach selbst danach.«
»Wie gesagt: Ich kenne diesen Namen nicht.« Margarete begann, die Becher abzuräumen, ohne dass Mimi überhaupt am Kaffee genippt hatte. »In den fünfundsechzig Jahren, die ich in diesem Haus tätig bin, ist er nicht einmal gefallen. Wahrscheinlich erinnert Clara sich nicht einmal selbst an ihn.«
Mimi blickte der Haushälterin irritiert nach, die mit dem Rücken zu ihr an der Spüle stehen blieb und das Wasser aufdrehte. Offenbar war das Gespräch beendet. Sie erhob sich nun ebenfalls und seufzte. »Gut. Dann werde ich jetzt mal in die Stadt ins Krankenhaus fahren. Vielen Dank für das Frühstück.«
Margarete begann mit dem Abwasch. Das Klirren des Geschirrs übertönte beinahe ihre letzten Worte. »Holen Sie Clara wieder nach Hause. Sie gehört hierher. Das ist ihre Welt. Ich kann mich um sie kümmern. So, wie ich mich immer um sie gekümmert habe.«
10
Unterwegs, 2013
Mit zwischen Kinn und Schulter geklemmtem Handy quetschte sich Mimi mit ihrem Kombi rückwärts in die letzte winzige Parklücke auf dem Besucherparkplatz des Krankenhauses. Dabei telefonierte sie mit Alice, um ihr zu sagen, dass sie heute später in die Galerie kommen, ihr dann aber helfen würde, das umfangreiche Archiv im Keller unter den Ausstellungsräumen zu sichten. Ihre zupackende Assistentin hatte bereits vor zwei Tagen damit begonnen, die teilweise aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Unterlagen der Galerie in den Computer einzuspeisen.
Nachdem das erledigt war, warf Mimi das Telefon auf den Beifahrersitz, wo das Kästchen mit dem Kompass lag und ein duftender Jelängerjelieberzweig, den sie für Clara mit einer Heckenschere im Vorgarten abgezwackt hatte. Bevor sie ausstieg, lehnte sie kurz ihren Kopf an die Nackenstütze und schloss die Augen. René hatte sich seit ihrem misslungenen Eherettungsversuch im ausgebeulten Cocktailkleid nicht mehr gemeldet. Auch in der Nacht und im Lauf des Morgens hatte er nicht versucht, sie zu erreichen. Keine Entschuldigung, kein Flehen, dass sie wieder nach Hause kommen solle. Für sein Schweigen konnte es nur zwei Gründe geben: Entweder wollte er sich nicht die Blöße geben und eingestehen, dass er einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Oder aber er hatte sich entschlossen, ohne sie weiterzumachen. Wenn das Erste richtig war, konnte Mimi immer noch überlegen, ob sie ihm in ein paar Tagen die Chance zu einer Aussprache gab, damit er in der Zwischenzeit seinen Stolz überwinden konnte. Was aber, wenn das Zweite zutraf?
Sie richtete sich wieder auf und starrte durch die mit Blütenstaub verklebte Windschutzscheibe. Schlief er mit dieser rothaarigen Frau? Wie lange ging diese Affäre schon? Wo trafen sie sich? Im Hotel? Oder sogar bei ihnen im Schlafzimmer? Planten sie bereits eine gemeinsame Zukunft? Was hatte René
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