Je länger, je lieber - Roman
erschien.
Sie nahm die Rotweinflasche in die Hand, in der lose der Korken steckte, goss das Glas randvoll und trank es in einem Zug aus. Und dann gleich noch ein Glas. Nach und nach breitete sich angenehme Entspanntheit in ihr aus.
An ihrem Ringfinger steckte noch immer der Ehering. Und zwar so fest, als weigerte er sich loszulassen. Na gut. Dann würde sie ihn eben morgen loswerden. Oder irgendwann anders. Mimi ließ ihren Kopf auf die Tischplatte sinken, direkt neben den Käseteller, und konzentrierte sich auf die Gegend in ihrem Körper, wo sie ihr Herz vermutete. Tat es weh? Schlug es überhaupt noch? Sie spürte nichts. War das jetzt ein gutes Zeichen? Würde sie, genau wie ihre Großmutter, ihr Leben lang mit einem gebrochenen Herzen herumlaufen müssen, weil sie es nicht schaffte, den erlittenen Verlust anzuerkennen? War denn die Trennung von René überhaupt ein Verlust? Oder eher ein Gewinn? So, wie ihre Assistentin Alice es heute gemeint hatte. Konnte Alice das überhaupt beurteilen? Sie stand ja nicht mal auf Männer.
Müde pustete Mimi die Kerzen aus, bis sie in ihrem beschwipsten Kopf sicher war, dass die Dochte auch wirklich nicht mehr glommen, und tapste durch die spärlich beleuchtete Halle Richtung Treppe. Auf dem Weg dorthin warf sie einen langen, taumelnden Blick in den verwaisten Salon, in dem das leere Pflegebett ihrer Großmutter stand. Das gerahmte Bild ihres Großvaters wartete dort mutterseelenallein auf Claras Rückkehr. Auf seine Frau mit dem gebrochenen Herzen. Auf seine Frau, die ein Geheimnis hatte. Auf seine Frau, die vielleicht einen anderen Mann geliebt hatte. War Gustav am Ende genauso ahnungslos wie Mimi gewesen?
Am nächsten Morgen regnete es in Strömen. Die Tropfen prasselten unablässig auf das satte Laub der Bäume. Es plätscherte und gluckerte wie im Regenwald. Mimi drehte sich im Bett auf die Seite. Es kam ihr so vor, als hätte sie all die Jahre nicht mal bemerkt, dass René Nacht für Nacht neben ihr lag und atmete. Zumindest nicht so richtig. Es war ihr irgendwie normal erschienen. Nicht außergewöhnlich, eher selbstverständlich. Und nun kam ihr dieses Alleineliegen wie eine gewaltige Strafe vor. Als sollte sie für ihre Undankbarkeit büßen. Sie wollte zu ihrem Mann zurück. Sie wollte in ihr Bett zurück und morgens Brotscheiben in den Toaster mit dem angeschmorten Kabel stecken.
Die Tränen sickerten aus ihren Augen ins Kissen, und ohne weiter darüber nachzudenken tastete sie nach dem Handy, das auf dem Nachttischchen lag. Sie wählte Renés Nummer und presste das Telefon an ihr Ohr. Am anderen Ende klingelte es. Dann sprang die Mailbox an. Auch beim zweiten und dritten Versuch nahm er nicht ab. Sie musste es einsehen. Es war vorbei. Es half nichts. Beim Atmen stach es in der Brust, als würde ihr Herz von einer eisernen Lanze durchbohrt werden. Am Wochenende würde sie mit Alice und ihrer Lebensgefährtin Lisa in die Kletterhalle fahren. Bestimmt tat es gut, körperlich bis zum Äußersten zu gehen, über die eigenen Grenzen hinaus, um zu sehen, wie stark und mutig sie eigentlich war. Irgendwie so hatte Alice es ausgedrückt, bevor sie einen Karton aus dem Regal auf den Tisch geknallt und Mimi eindringlich geraten hatte, diesen »Verräter« zu vergessen.
Unten in der Küche hörte sie Margarete rumoren. Mimi angelte nach ihrer Jogginghose, die über dem Fußende des Bettes hing, und schlurfte zur Zimmertür. Draußen im Flur duftete es nach Kaffee und Pfannkuchen. Dann würde sie sich eben erst mal um das gebrochene Herz ihrer Großmutter kümmern und herausfinden, was zu tun war, um es zu heilen. Auf diesem Weg würde Mimi vielleicht auch erkennen, was sie tun konnte, um sich selbst und ihr Herz zu retten.
Sie lief die Treppe hinunter, ihr Handy hatte sie oben liegen gelassen, sie wollte nicht mehr auf Renés Anruf warten. Normalerweise hatte sie das Gerät immer bei sich, falls Dringendes anlag. Bis vorgestern schien immer alles dringlich gewesen zu sein: Mails beantworten. Telefonate führen. Künstler beruhigen. Sammler zum Flughafen bringen. Die Waschmaschine reparieren lassen. Vermutlich hatte René das Leben hinter all den Verpflichtungen wiederentdeckt und kostete es jetzt in vollen Zügen aus.
Mimi atmete zweimal tief durch und drückte dann die Schwingtür zur Küche auf. Margarete stellte gerade frische Blumen auf den Holztisch. In ihrem Gesicht lag Anspannung.
»Gut geschlafen? Konnten Sie Clara nicht wieder mit nach Hause nehmen?«
»Leider
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