Je länger, je lieber - Roman
seitdem Mimi hier vor fünfzehn Jahren ausgezogen war, hatte bestimmt niemand mehr darauf gespielt. Sie lächelte. In ihren Fingern zuckte es. Sie war keine ganz schlechte Klavierspielerin. Wäre sie jetzt nicht auf der Suche nach alten Zeugnissen gewesen, hätte sie sich vor die Tasten gesetzt, um zu sehen, was sie noch draufhatte. Früher hatte sie gern für Bruno gespielt. Er hatte neben ihr auf dem Hocker gesessen und für sie die Notenblätter umgewendet. Dabei hatten sich ihre nackten Arme kaum merklich berührt, was zumindest Mimi wohlige Schauer über den Rücken gejagt hatte. Bruno war mit dreizehn Jahren ihre erste geheime Liebe gewesen. So geheim, dass er vermutlich bis heute nichts davon ahnte. Aber konnte in diesem Teenageralter überhaupt von Liebe gesprochen werden? War man als junger Mensch denn schon fähig, ein derart tiefes Gefühl für einen anderen zu empfinden? Zugegebenermaßen fragte sich Mimi bis heute, wie es wohl gewesen wäre, ihn zu küssen.
Auf den Wandborden lagen ein paar vergilbte Notenhefte, und in der alten Truhe befanden sich gebügelte Leinentischdecken und Servietten. Kein Hinweis auf Jacques. Also zog Mimi hinter sich die Tür wieder zu und sah sich in Claras Schreibzimmer um. Als sie auch hier nichts fand beziehungsweise die Türchen im Sekretär ohne Schlüssel nicht zu öffnen waren, stieg sie mit einer Petroleumlampe ins Dach hinauf. Im ganzen Haus hatte sie keine Taschenlampe finden können.
Sie musste einige Kraft aufwenden, um die rostige Klinke nach unten zu drücken und sich anschließend gegen die verzogene Tür zu stemmen, bis sie sich einen Spalt breit öffnete. Durch den plötzlichen Luftzug wurde der Staub aufgewirbelt, der sich über all die Jahre als graue Schicht auf die Gegenstände gelegt hatte. Mimi hustete und stieß eine der Dachluken auf, durch die matt das fahle Licht des Regentages drang und die im Austausch die Hitze, die sich in den letzten Tagen unter dem Gebälk gestaut hatte, nach draußen entließ.
Sie sah sich um. An der gemauerten Rückwand standen einige Kartons übereinander. Sie hielt die Lampe hoch und trat näher heran, um zu sehen, ob irgendwelche Anhaltspunkte darauf notiert waren. Und tatsächlich hatte jemand feinsäuberlich auf den obersten mit einem dicken Bleistift 1928 geschrieben. Mimi rechnete zurück. Da musste Clara etwa dreizehn Jahre alt gewesen sein. Zu jung, als dass jemand ihr Herz hätte brechen können. Mimi stellte die Lampe vorsichtig ab. Auf dem Karton darunter stand in roten Buchstaben 1939. Damals musste Clara Mitte zwanzig gewesen sein. Das kam schon eher hin. Mimi schob die Ärmel ihres Pullis hoch und klappte den Deckel auf.
In der Kiste befanden sich alte Aquarellblöcke, Pinsel, Farbtuben, eine leere Rotweinflasche. Sie drehte die Flasche in ihrer Hand, um zu entziffern, was auf dem Etikett stand: »Cadaqués. Aurelio Baretto. 1938«
Weiter unten lag ein zusammengebundenes Päckchen verblasster Postkarten und Briefe. Vorsichtig zog sie es hervor und drehte es um. Die Karten schienen ebenfalls alle aus Cadaqués, dem spanischen Fischerort, zu stammen, in dem Clara als Jugendliche ihre Sommer verbracht hatte, und waren an diese Adresse hier gerichtet. Mimi öffnete das hellblaue Seidenband, mit dem der Stapel zusammengehalten wurde. Eine Postkarte zeigte weiß getünchte Steinhäuser, die sich um einen Marktplatz gruppierten, auf dem eine Menschenansammlung zu sehen war. In deren Mitte tanzten Frauen in bodenlangen Kleidern und Kinder in Matrosenanzügen. Im Hintergrund waren Männer mit Trompeten, Posaunen und einem Kontrabass zu sehen. Dann gab es eine Luftaufnahme – offenbar von einem Berg herabfotografiert – einer kleinen, weißen Küstenstadt, aus deren Zentrum sich eine gewaltige Kirche emporschraubte. Eine andere Karte zeigte den Hafen, an dem Fischerboote angelegt hatten und Frauen große Tongefäße auf ihren Köpfen balancierten. Einige von ihnen hielten Kinder an den Händen. Die letzte Postkarte zeigte einen mit Körben schwer bepackten Esel, der mit aufgestellten Ohren neugierig in die Kamera blickte.
Mimi drehte die Karten herum. Und sofort blieb ihr Blick an der kantigen Unterschrift hängen. Jacques. Er war also kein Hirngespinst. Es hatte ihn wirklich gegeben. Plötzlich spürte sie wieder ihr Herz schlagen. Sie hatte also doch eines! Vor über dreiundsiebzig Jahren hatte sich dieser junge Mann hingesetzt und diese Karten und sogar Briefe an ihre Großmutter geschrieben. Dieser
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