Je länger, je lieber - Roman
sie fröhlich und übermütig über die Felsen gesprungen und sich ihrer außergewöhnlichen Schönheit bewusst gewesen war. Kurz war für sie dieser Zauber der unbeschwerten Jugend gewesen, aus dem jeder irgendwann geweckt wurde, um sich dem Ernst des Lebens zu stellen und erwachsen zu werden. Doch so früh? So unerbittlich?
Hätte er sie warnen sollen? Doch welcher liebende Vater brachte es übers Herz, seinem an das Gute glaubende Kind die Wahrheit über das Leben zu sagen, bevor es selbst dahinterkam? Dass die Zeit des Übermuts irgendwann vorbei war? Dass es keine Unschuld gab? Casados Blick blieb an der noch ungerahmten Leinwand hängen, die neben der Tür stand und seine Tochter als zarten Engel im weißen Gewand zeigte. Clara hatte ihr das Bild zum Abschied gemalt. Das war erst ein paar Tage her, aber es schien jetzt schon aus einer Zeit zu stammen, die längst vergangen war. Es würde für immer an einen Sommer erinnern, in dem alles sein Ende fand. Das Ende der Leichtigkeit. Den Anfang aller Schuld. Es würde Casado daran erinnern, wie er von seinen eigenen Überzeugungen abwich und Menschen ins Unglück zwang, um das Unglück seiner Tochter zu erleichtern.
Draußen vor dem Fenster glitzerte das Meer in sanften kleinen Wellen wie Wasser in einer silbernen Schüssel, über die der Luftzug eines Fächers glitt. Jenseits der Bucht standen ein paar junge Männer in Badehosen auf den grauen Felsen. Von dort oben stürzten sie sich kopfüber und mit gestreckten Körpern in die Tiefe, tauchten in das kühle Nass bis zum sandigen Grund, um dann unter dem Applaus der Umstehenden wie ein Pfeil wieder an die türkisfarbene Wasseroberfläche zu schießen.
Casado strich über Darias zarte Hände. »Ich werde jetzt zu deiner Mutter gehen und mich mit ihr beraten, welche Schritte als Nächstes zu unternehmen sind. Die Zeit drängt, wie du weißt. Wir müssen Einladungen entwerfen und drucken lassen. Mamas Schneiderin soll kommen, Maß nehmen und Stoffe bestellen.«
Daria nickte. »Danke, Papá. Ich danke dir.«
»Natürlich, mein Kind.«
Casado erhob sich. »Hoffen wir nur, dass deine Mutter sich von dem Schock erholt. Nachts wacht sie jammernd aus quälenden Träumen auf, in denen alle auf sie zeigen, sie keine Einladungen mehr bekommt und sich unsere Freunde von uns abwenden.«
Daria rutschte auf die Knie hinunter auf den Kokosteppich. Von dort aus sah sie aus glänzenden Augen zu ihrem Vater hinauf. »Verzeih mir, Papá. Ich wünschte, es wäre nicht passiert. Aber ich war verliebt.«
Er strich ihr über das wirre, dunkle Haar und flüsterte beinahe unhörbar. »Ich wünschte, ich hätte dich gewarnt.«
12
Waldblütenhain, 2013
Nachdem Mimi den ganzen Tag im staubigen Keller der Galerie verbracht, mit Alice Kartons aus den Regalen gewuchtet und jahrzehntealte Akten durchgesehen, sortiert und Notizen mit namenlosen Telefonnummern und Kritzeleien archiviert hatte, parkte sie in der Abenddämmerung wie selbstverständlich vor dem dreistöckigen Haus ihrer Großmutter. Ihr schien als wäre längst entschieden, dass dieses Gebäude mit seinen vielen leer stehenden Zimmern für alle Zukunft ihr Zuhause sein würde. Machte sie sich etwas vor, oder brauchte sie tatsächlich nicht länger, um ihr altes Leben hinter sich zu lassen?
In der Küche hatte Margarete ein Abendessen vorbereitet, das so viel Einsamkeit verströmte, dass Mimi auf der Stelle hätte losheulen können: Ein Teller. Ein Glas. Eine Flasche Rotwein. Eine kleine Käseplatte. Ein kleiner Brotkorb. Die Haushälterin selbst war bereits hinüber ins Gesindehaus zu ihren alten Töpfen und Pfannen verschwunden. Würde Mimi auch so enden? In den ewig gleichen Abläufen? Oder war sie gerade den ewig gleichen Abläufen entkommen? War ihr Leben mit René nicht auch total gleichförmig verlaufen?
Eine dicke Bienenwachskerze flackerte auf dem langen Holztisch. Seit dem Tod ihrer Eltern vor zwanzig Jahren hatte sie sich nicht mehr so verlassen gefühlt. Wie lange hatte es damals gedauert, über diesen unfassbaren Verlust hinwegzukommen? Mimi ließ ihre Handtasche auf einen der Stühle sinken und setzte sich auf den daneben. Wie hatte sie es geschafft weiterzumachen, obwohl sie wusste, dass ihre Eltern nie zurückkehren würden? So, wie das Leben mit René nicht zurückkehren würde. Zumindest sah alles danach aus. Sie hatte keinen Plan, keine Idee für die Zukunft. Wenigstens keine, die ihr wie die Erfüllung ihres ganz persönlichen Lebensglücks
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