Je länger, je lieber - Roman
Vergangenheit Ihrer Großmutter Geheimnisse, von denen Sie nichts wissen. Aber, wie gesagt, es ist nur eine Vermutung, und Sie werden Ihre Großmutter ja am besten kennen. Sind Sie ihre einzige Verwandte?«
»Ja.« Mimi blickte zu Boden, wie sie jedes Mal zu Boden blickte, wenn die Sprache auf ihre Eltern kam. Da sie nichts mehr sagte, sondern nur abwesend nickte, fuhr der Arzt schließlich mit sachlichem Unterton fort:
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen im Moment nicht mehr sagen kann. Aber bis ich mir ein genaueres Bild davon gemacht habe, wie wir Ihrer Großmutter helfen können, gönnen wir ihr bitte etwas Ruhe.«
»In Ordnung.« Mimi wischte sich mit dem Handballen über die Augen. »Nur, um es richtig zu verstehen: Würde es die Heilung denn unterstützen, wenn sie über die Verletzung irgendwie hinwegkommen würde?«
»Tja«, der Arzt seufzte. »Normalerweise beschränke ich mich als Schulmediziner auf von der Wissenschaft anerkannte Heilmethoden. Aber in diesem Fall sollte man nichts unversucht lassen. Wenn Sie also Ihrerseits auf eine Idee kommen, wie sich ein gebrochenes Herz heilen lässt, kann das sicherlich nicht schaden.«
»Ich danke Ihnen.« Mimi holte tief Luft, nahm den Jelängerjelieberzweig und das Kästchen mit dem Kompass und folgte Doktor Felsenstein zur Tür. »Kann ich nur für einen Augenblick zu ihr? Ich habe ihre Lieblingsblumen mitgebracht. Sie heißen Jelängerjelieber.«
»Sicher.« Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem Zipfel seines Arztkittels. Dann setzte er sie sich wieder auf und blickte Mimi durch die dicken Gläser nachdenklich an. »Jelängerjelieber, ja? Das nenne ich Ironie des Schicksals.«
11
Cadaqués, 1928
Daria blickte auf, als Casado die Tür ihres Zimmers langsam aufschob. Sie saß auf der Kante ihres breiten Bettes, noch immer in ihrem weißen Sommerkleid, in dem sie sogar die letzte Nacht verbracht hatte. Als würde sie es nie wieder ausziehen. Als würde sie nie wieder ein Bad nehmen. Würde sie sich je wieder von der Bettkante wegbewegen? Ihre Augen waren vom Weinen verquollen, ihr sonnengebräuntes Gesicht wirkte blass und war mit roten, hektischen Flecken übersät. Sie schlug die Lider nieder, als ihr korpulenter Vater in seinem hellen Leinenanzug und Schnürschuhen über den Kokosteppich auf sie zukam. In der Voliere, die am offenen Fenster hing, zwitscherten und flatterten die Kanarienvögel aufgeregt, als er mit seinem Arm eine plötzliche Bewegung machte, als wollte er diesen Albtraum, in dem sie alle gefangen waren, fortjagen. Seine dröhnende Stimme erfüllte den ganzen Raum. »Darf ich hereinkommen?«
Daria nickte, und Emilio blieb wenige Schritte von ihr entfernt stehen. Angespannt rieb er sich über die breite Stirn. Für ihn war es schwer auszuhalten, seine Tochter in solch erbärmlichem Zustand zu sehen. Wie eine von der Katze erwischte Möwe kauerte sie zitternd und geduckt auf der Bettkante. Ein vollkommen ungewohnter Anblick. Normalerweise sprang sie durchs Haus. Er liebte seine einzige Tochter so sehr. Seit sie auf der Welt war, wollte er sie beschützen und in so eine Voliere setzen, damit er sie stets im Auge behalten konnte. Seine zarte Möwe. Das goldene Band, das er heimlich nach ihrer Geburt um ihr Beinchen gebunden hatte, damit sie nie zu weit in gefährliche Gefilde flatterte, hatte sich mit den Jahren unmerklich gelöst. Oder hatte Gala es heimlich durchtrennt, weil sie der Auffassung war, ein junges Mädchen musste sich ausprobieren und sich der Gesellschaft zeigen? Selbst wenn Daria auf die Gefahren und Hinterhalte längst nicht vorbereitet war, die es außerhalb ihres Zuhauses gab? Er hatte Gala gewarnt, dass ihre Tochter viel zu unbekümmert für solcherlei Vergnügen war.
Aber dann war seine Frau, ohne es mit ihm abzusprechen, mit Daria Anfang des Sommers mit einem neuen Kleid im Koffer zu seinem Galeristen Federico Gasset nach Barcelona gereist. Zu einem Sommerfest in dessen Haus, während er in New York ahnungslos eine Ausstellung vorbereitet hatte! Eine Sechzehnjährige, die bis dahin kaum die Stadt verlassen hatte, unter lauter enthemmten Erwachsenen! Wie hatte Gala sie an diesem Abend nur für einen Moment aus den Augen lassen können? Was für ein Wahnsinn im Grunde.
Casado holte tief Luft. Er hatte vergessen, was er sagen wollte. Auf den Treppenstufen nach oben hatte er es noch genau gewusst. Er hatte mit dem Fuß aufstampfen und seine Tochter fragen wollen, wie in Gottes Namen sie nur so leichtsinnig
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