Je länger, je lieber - Roman
geheimnisvolle Mann, von dem Margarete nichts gewusst haben wollte. Bisher hatte Mimi nicht geahnt, dass es in ihrer Familie Geheimnisse gab. Aber gut, auch die Machenschaften von René hatte sie nicht erahnt. Musste sie annehmen, dass am Ende nichts so war, wie es schien? So, wie Doktor Felsenstein es gesagt hatte? Unwillkürlich lachte Mimi auf. Gab es noch mehr Verborgenes, von dem sie nichts wusste? Bis heute hatte Clara ihr nicht darauf geantwortet, was ihre Eltern damals in Kanada zu tun gehabt hatten. »Das war geschäftlich!« Mehr war aus ihrer Großmutter nicht herauszubekommen gewesen. Und Mimi hatte irgendwann aufgegeben nachzufragen, ganz entgegen ihrem Bedürfnis, so genau wie möglich die letzten Tage ihrer Eltern nachzuvollziehen.»Lass die Vergangenheit los!«, hatte Clara eindringlich gesagt. Doch selbst hatte sie sich offenbar nicht an diesen Rat gehalten. Sonst würde Mimi nicht nach dem mysteriösen Jacques suchen. Dem Mann, den ihre Großmutter nicht losgelassen hatte.
13
Cadaqués, 1928
Daria saß wie eine schmutzig weiße Möwe auf den Kieseln unter den Olivenbäumen, die oberhalb ihres verschachtelten Zuhauses wuchsen. Die Terrasse war eingefasst von einer weiß getünchten Felssteinmauer. Auf dem darunterliegenden Hang standen hohe Kakteen, deren feine Stacheln sich in der Haut festhakten, sobald man ihnen zu nahe kam. Gerade noch waren sie und Clara auf der schmalen Mauer balanciert – als Mutprobe. Natürlich hatte Gala ihnen strengstens verboten, auch nur einen Fuß auf die Mauer zu setzen. Und genau darum hatten sie es getan. Weil es gefährlich war. Weil es ein Nervenkitzel war. Weil sie Mädchen sein wollten, die sich etwas trauten, die Schmerzen und Knochenbrüche in Kauf nahmen, um ihren Mut zu testen. Weil sie nach immer neuen Herausforderungen gesucht hatten, sich die langen Sommertage zu vertreiben.
Daria spürte die Kiesel unter ihren Oberschenkeln. Das weiße Sommerkleid, das am Saum grau und fleckig war, breitete sich über die staubigen Steinchen. In ihrem Kopf rauschte die Einsamkeit, in ihrem Herzen pumpte der Selbsthass. Sie wollte irgendwohin fliehen, wo niemand sie kannte. In ein anderes Land, in dem andere Gesetze herrschten als hier. Oder gar keine. Ein Land, in dem man nicht für das, was man aus Unwissenheit oder Neugierde getan hatte, verurteilt wurde. Ein Land, in dem es keine Schelte, kein Jammern und Klagen gab. Ein Ort, an dem man sich nicht verstecken musste, weil einem ein Fehler unterlaufen war und die Menschen auf einen zeigten und tuschelten und die Köpfe schüttelten. Eine Welt ohne Richter.
Während in Daria ein neuer Mensch heranwuchs, der sie brauchte, hatte sie die Verbindung zu allen anderen Menschen verloren. Sie war eine Verstoßene. Von einer Sekunde auf die andere konnte einem das also passieren. Im einen Moment war man vollkommen frei. Im nächsten Moment angekettet und mundtot gemacht. Sie sah die harten Blättchen des Olivenbaums über sich in der Sonne flackern. Winzig und robust. Daria streckte ihre Hand nach ihnen aus und zupfte eines ab. »Schicksal«, flüsterte sie. Sie war dieses eine Blättchen, abgetrennt von den anderen, abgetrennt vom Lebensfluss, zum langsamen Absterben verdammt, ohne Verbindung zum Rest. Es gab kein Zurück ins alte Leben. Für sie nicht. Und für dieses Blättchen nicht. Sie wollte nicht zu diesen Menschen gehören, die so engstirnig und kalt waren. Sie griff nach dem goldenen Medaillon, das sie an einer langen Kette um ihren Hals trug. Sie klappte es auf, und ihre Eltern blickten ihr von zwei winzigen Fotografien stolz entgegen. Daria legte das Olivenblättchen in die ovale Schatulle hinein und klappte sie wieder zu. »Hier habt ihr euer Kind.«
Dann stand sie auf. Erst jetzt machte sich die lähmende Hitze bemerkbar. Wie konnte es sein, dass es Ende September noch so heiß war? Oder bildete sie sich das nur ein? Der flirrende Schatten der Olivenbäume war kein echter Schatten, kein Schutz vor der Hitze und dem gleißenden Licht. Zwei Wochen lebte sie schon in diesem Albtraum. Zwei lange Wochen hielt sie es schon darin aus. Wie der Mann hinter seiner eisernen Maske. Im Kerker. Doch das, was sie beide unterschied, war, dass der Mann noch Hoffnung auf Befreiung in sein altes Leben hatte, sie nicht. Wie lange konnte ein Mensch solch eine Isolation aushalten?
Daria taumelte barfuß unter den Bäumchen Richtung Mauer. Ihre Eltern saßen mit Gästen aus Buenos Aires im Innenhof am Schwimmbecken. Sicherlich
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