Je länger, je lieber - Roman
würde nicht zulassen, dass ihr in ihrer Obhut etwas passierte.
Daria hielt den bräunlichen Briefumschlag an ihre Brust gepresst. Sie wusste, von wem dieser Brief kam. Jeden Tag schrieb Clara ihr, von ihrer Sehnsucht nach Jacques, in der Hoffnung, Daria würde ihr als erfahrene Freundin zur Seite stehen. Daria stieß verächtlich die Luft aus: Als erfahrene Freundin! Ja! Die war sie nun wirklich! Doch mit jedem Brief wurden ihre Schuldgefühle unerträglicher. Sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihrer jüngeren Freundin zu antworten, die fest an ihre Treue glaubte. Was sollte sie ihr auch schreiben? Dass Clara in ihrem Waldblütenhain vergeblich auf Jacques wartete? Dass aus ihnen beiden nie etwas werden würde, obwohl sie sich liebten? Dass Jacques stattdessen Daria heiraten würde, und zwar nur, weil sie einen gewaltigen Fehler begangen hatte, dessen Auswüchse sich bald unter ihrem Kleid abzeichnen würden. Dass Jacques bei all dem keine Wahl hatte. Keiner von ihnen hatte eine Wahl. Aber machte es das besser?
Daria hatte sich von einem verheirateten Mann verführen lassen. Sie hatte ihm Glauben geschenkt, wie ein Kind jedem Erwachsenen glaubte, der etwas mit großer Ernsthaftigkeit hervorbrachte. Bis das Kind erkannte, dass es derjenige, den es liebte, verraten hatte.
War sie verpflichtet, Clara die Wahrheit über die jüngsten Entwicklungen zu sagen? Oder sollte sie ihr alles verschweigen und im süßen Traum verweilen lassen, bis sie alt genug war zu erkennen, was Daria inzwischen gelernt hatte: dass es im Leben nicht immer so lief, wie man es sich wünschte? Dass es in dieser Welt Gesetze gab, die sich gegen den Menschen und die Liebe richteten? Und dass man sich an sie halten musste, egal, wie sehr man sich eigentlich gegen sie wehren wollte.
Sie nahm den Brief und zerriss ihn in viele kleine Schnipselchen, die sie den Abhang hinunterrieseln ließ, wo all die schönen Worte zu Staub zerfallen würden. Irgendwann würde Clara schon aufgeben, ihr zu schreiben. Irgendwann würde sie einen anderen jungen Mann treffen und Jacques vergessen.
Daria ging ins Haus, die schmalen Stufen hinunter in ihr Schlafzimmer, wo sie nach der Leinwand griff, die sie als weißen, unschuldigen Engel zeigte, weiter durch die Bibliothek, in den Flur hinaus und dann wieder die Stufen hinauf ins Atelier ihres Vaters. Daria nahm einen seiner Pinsel, die sich in den Gläsern drängten. Sie wählte einen besonders dicken. Sie drückte schwarze Ölfarbe auf die Palette und übermalte das lichte Weiß des Hintergrunds, sodass den Engel nun vollkommene Düsternis umgab. Ein Bild wie ein böses Symbol, für das, was unweigerlich auf Daria zukommen würde.
14
Waldblütenhain, 2013
Am frühen Nachmittag, als der Niederschlag in der Hitze des wolkenlosen Nachmittags verdampfte, paddelte Mimi im alten Kahn den Bachlauf hinunter. Sie hatte ihr Sweatshirt ausgezogen und saß jetzt in T-Shirt und Badelatschen da. Begleitet vom Sirren der Libellen und dem Flüstern des Schilfs erreichte sie den Waldsee, dessen Oberfläche mit gelbem Blütenstaub bedeckt war. Die Sonn e fiel schwer und warm auf sie herunter. Weit hinten entdeckte sie den alten Autoreifen, der an einem Seil von einem dicken Ast herunterbaumelte. Früher waren sie und Margaretes Jungs darauf über das Wasser geschaukelt und abgesprungen. Sie hörte Brunos Stimme über den See hallen: »Pass auf die Schlingpflanzen auf!« Dann hörte sie, wie etwas ins Wasser platschte. War sie das vor beinahe zweiundzwanzig Jahren gewesen? Bruno war hinterhergesprungen und direkt neben ihr eingetaucht. Unter Wasser hatte er nach ihren Händen getastet und gemeinsam waren sie wieder aufgetaucht. Für einen Moment hatten sie sich angelächelt und tief in die Augen gesehen. Vielleicht waren sie kurz davor gewesen, sich zu küssen. Doch dann hatte Felix vom Ufer zu ihnen hinübergerufen: »Was macht ihr da?« Also waren sie eilig zu ihm zurückgeschwom men.
Mimi sah noch eine Weile auf das stille Gewässer hinaus, bis die Erinnerung ganz verblasste. Dann senkte sie ihren Blick.
Auf ihren Knien lag das Postkartenbündel. Sie hatte das Lesen hinausgezögert und in ihrem alten Jugendzimmer noch einige Geschäftsmails beantwortet. Sie wollte Alice nicht mit dem zeitintensiven Archivsichten und dem zusätzlichen Organisationskram rund um die nächsten geplanten Ausstellungen allein lassen. Selbst wenn Mimi, die im Gegensatz zu ihrer Assistentin seit Jahren nicht ein einziges Mal Urlaub genommen
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