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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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waren sie nicht bei der Sache. Sicherlich lachten sie abwesend über Scherze, innerlich von der Sorge zerfressen, ihr eigenes, kunstvoll inszeniertes Leben und das ihrer Tochter könnten aus den Fugen geraten.
    Daria zog sich die hüfthohe Mauer hinauf. Der Stein drückte in ihre Knie. Sie hielt sich mit beiden Händen fest. Dann setzte sie nacheinander die Füße auf. Schließlich richtete sie sich auf in den Stand. Die Arme ließ sie ganz locker am Körper herunterhängen. Sie blinzelte in die Sonne, die über die verdorrten Hügel floss. Immer wieder bohrte sich der Fels von unten durch die trockene Grasdecke, wie geborstene Knochen durch die Haut. Dann ließ sie ihren Blick hinüberschweifen zur Bucht, in der das türkisblaue Wasser sich um die Felsen herum ergoss wie ausgekippte Farbe. Weit draußen, am Horizont, war die Wölbung der Erde zu erkennen, wie die sanfte Wölbung einer schwangeren Frau. Mutter Erde. Daria strich zärtlich über ihre Wölbung. Sie war noch keine Frau. Sie war ein junges Mädchen, das sich fälschlicherweise verliebt hatte. Und nun war sie schwanger, als hätte sich die Natur mit ihr einen makabren Scherz erlaubt.
    Ihr Blick fiel hinunter. Rechts der Mauer begann der Steilhang, voll mit stacheligen Kakteen. Würde sie nur einen Schritt zur Seite tun oder das Gleichgewicht verlieren, würden sich deren Widerhaken in ihr Fleisch graben, nicht mit dem Vorhaben, den stürzenden Körper festzuhalten, sondern ihn zu verletzen, bis er unten im Staub, am Fuß des Felsens aufschlug.
    Daria würde das Kind in sich töten. Sie würden gemeinsam sterben. Dort unten in der sengenden Hitze des Tages würden sie zugrunde gehen. Gemeinsam, um ihre Eltern von der Last zu befreien. Um diesen Ort von ihrer Last zu befreien. Um Jacques von seiner Last zu befreien. Um Clara nicht ihr Paradies zu nehmen. Auch wenn Daria nun wusste, wohin Verliebtheit führte – direkt in die Verdammnis. Sie atmete tief ein und aus. Sie war entschlossen. Sie hörte die Grillen in den Kakteenfeldern zirpen. Sie sah die Eidechsen zwischen den dicken Agavenblättern im Zickzack huschen. Sie sah die Steine. Sie sah die Ameisen. Die Käfer. Sie sah alles überdeutlich, als wollte sich die gesamte Umgebung für immer in ihre Erinnerung einbrennen, um sie in ihr nächstes Leben zu begleiten.
    Daria strich noch einmal über ihren Bauch, in dem nichtsahnend ihr unschuldiges Kind wuchs. War es nicht schön, so eng miteinander verbunden zu sein? Langsam drehte sie sich auf der schmalen Mauer um. Sie wollte in die andere Richtung sehen. Einen letzten Blick auf die Weinberge, die Santa-Maria-Kirche, auf die Häuser und den Hafen erhaschen.
    »Daria?« Hinter ihr ertönte Selenas mürrische Stimme, in der nun auch noch blankes Entsetzen mitschwang. »Was tun Sie da? Kommen Sie sofort da runter!«
    Aber Daria dachte gar nicht daran. Dann sprang sie eben jetzt. Sie stieß sich mit den nackten Füßen vom Stein ab, sicher, dass es das Letzte in diesem Leben war, was sie tat. In Gedanken flog sie hinein in die Kakteen, die ihre stacheligen Arme ausbreiteten, um sie zu empfangen. Doch etwas stoppte ihren Sturz. Zwei kräftige Hände packten sie an den Oberschenkeln und katapultierten sie mit Schwung zurück auf den heißen Kies.
    »Lassen Sie diese Dummheiten!«
    Daria schwankte. Sie stierte die Haushälterin, die beinahe einen Kopf kleiner war als sie, wütend an. Sie stand wieder auf festem Boden, nur ein paar Schritte von den Olivenbäumen entfernt. Was sollte das? Sie spürte die runden Steine unter ihren nackten Sohlen. Sie stürzte nicht den felsigen Abhang hinunter. Daria öffnete den Mund. »Warum haben Sie mich festgehalten?«
    »Damit Sie sich nicht zu Tode stürzen.«
    »Und wenn ich genau das gewollt habe?«
    »Hören Sie auf, so zu reden! So etwas tut man nicht.«
    »Mein Leben ist sowieso vorbei.«
    »Was wissen Sie denn schon? Wenn ich Sie noch einmal auf der Mauer erwische, erzähle ich Ihren Eltern davon. Ich warne Sie! Ich behalte Sie im Auge! Und jetzt genug davon. Hier ist ein Brief für Sie.«
    Selena drückte Daria einen Umschlag an die Brust und stemmte ihre kräftigen Fäuste in die ausladenden Hüften. Dann drehte sie sich schwungvoll um, was etwas seltsam bei ihrer Leibesfülle aussah, und verschwand im Inneren des kühlen Hauses. Die Haushälterin kannte Daria von klein auf. Auch wenn Daria sie nie fröhlich oder heiter erlebt hatte, wusste sie doch, dass in Selenas massigem Körper ein liebevolles Herz wohnte. Sie

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