Je länger, je lieber - Roman
ihn Jacques gegeben, damit er den Weg zu ihr fand.
»Was?«, flüsterte Mimi atemlos. »Was hat das …?«
Eilig faltete sie den Briefbogen auseinander und überflog die in kantiger Handschrift verfassten Zeilen, deren Inhalt leicht zu verstehen war – und doch ganz und gar nicht.
Meine Goldblüte, verzeih mir, dass ich so lange auf eine Antwort auf all Deine vielen lieben Briefe habe warten lassen. Der Grund dafür ist Feigheit. Nichts als Feigheit. Heute ist der Tag, an dem ich Dir Deinen Kompass zurücksende, der mich irgendwann zu Dir, durch den Wald, in Dein Paradies, führen sollte. Aber ich werde nicht kommen. Ich werde niemals kommen. Es ist an der Zeit, Dir eine furchtbare Wahrheit zu sagen, die ich nicht länger für mich behalten kann und die ich Dir schon seit Jahren – ja! seit Jahren schuldig bin. Ich habe Daria geheiratet und bin Vater ihres kleinen Sohnes Pedro geworden, dessen eigentlicher Vater sich von ihm abgewendet hat. Casado hat mich um diesen Gefallen gebeten, und ich konnte nicht anders, als ihm auf diese Weise für seine Hilfe zu danken, die er einst meiner Familie in der Not hat zukommen lassen. Es tut mir leid. Ich liebe Dich so sehr. Warte nicht länger auf mich. Dein Jacques
Clara sackte auf den Verandastufen zusammen. Wieder und wieder las sie die Zeilen, zwischen denen doch viel mehr stand. Die Frau, die Jacques geheiratet und mit der er ein Kind hatte, war ihre beste Freundin gewesen. Plötzlich fing das Schweigen der beiden zu sprechen an. All die Jahre hatte Jacques ihr etwas vorgemacht, hatte sie in einer Fantasie leben lassen, ohne ihr die einfache, aber wichtige Mitteilung zu machen, dass diese Fantasie nie Wirklichkeit werden würde. Er hatte sie in dieser Träumerei, die er mit jedem seiner Briefe mehr ausgeschmückt und zur Realität hatte werden lassen, ausgesetzt wie ein Fischchen im Aquarium, das annahm, das Aquarium sei die Welt.
Er hatte sie in seiner Lüge gefangen gehalten, ohne dass sie es überhaupt geahnt hatte. Und nun sagte er ihr, dass sie all die Jahre wie ein ahnungsloses, dummes Fischchen im Aquarium herumgeschwommen war und dem falschen Menschen vertraut hatte, im Glauben, unerschütterliche Liebe verbinde sie!
Warum?
Wirklich nur aus Feigheit? Clara drehte den Briefbogen um? Da war keine weitere Erklärung. Kein darum. Kein deshalb. Kein gar nichts. Clara nahm den Briefumschlag hoch. Die Post kam aus Arles. Aus Arles? Lebte Jacques mit Daria und ihrem Sohn inzwischen dort? Hatte sie ihre Kindheit und Jugend mit schlechten Menschen verbracht? Verfügte sie über so wenig Menschenkenntnis? Warum waren ihre Eltern nicht da, die sie all das hätte fragen können? Oder hatten ihre Eltern damals längst etwas geahnt, es aber nicht übers Herz gebracht, ihre Tochter zu warnen? War sie so zerbrechlich?
Clara schlich ins Haus zurück und drückte hinter sich die Tür ins Schloss. Was um Himmels willen sollte aus ihr werden? Sie schaffte es kaum noch die Treppen hinauf in ihr Zimmer. So sehr stach der Schmerz in ihrer Brust. Es fühlte sich an, als würde ihr Herz brechen. Als würde es einfach in der Mitte durchbrechen.
In ihrem Zimmer blieb Clara auf dem gewebten Bettvorleger liegen. Ihr war kalt in der Stille des unbewohnten Hauses mit den vielen leeren Zimmern, von denen sie gehofft hatte, dass sie eines Tages von Kinderstimmen erfüllt sein würden. Ihr war, als wäre sie der letzte Mensch auf der Welt. Kalt kroch die Luft durch das offene Fenster herein. Sie rollte sich eng zusammen. Sie zog die Knie bis zum Kinn und klammerte sich am hölzernen Gehäuse ihres kleinen Kompasses fest, in dessen Boden sie vor fünf Jahren voller Unschuld und Vorfreude seinen Namen geritzt hatte: »Jacques.« Wie lange sie dort lag, konnte sie später nicht mehr sagen. Ein paar Tage. Eine Woche? Es war ihr nicht wichtig. Ein Tag glich dem anderen.
21
Lunenburg, 2013
Am späten Abend checkte Mimi im Smuggler’s Cove Inn ein, einem privat betriebenen Hotel in Lunenburg, in der Nähe des Hafens, das wie alle Häuser des Städtchens mit Holzlatten verschalt war. Ihr Fenster ging nicht zur See, sondern in den Garten hinaus, in dem sich hohe Ahornbäume mit weit ausladenden Ästen in der Meeresbrise wiegten. Durch die dünnen Wände des dreigeschossigen Hauses hörte sie die gedämpften Stimmen der anderen Gäste. Draußen im Flur klackerte die Eismaschine. Hier drinnen knurrte ihr Magen. Leider waren bereits sämtliche Diners im Ort geschlossen, und im Hotel gab es auch
Weitere Kostenlose Bücher