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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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Dotty’s Cove bei Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang zeigte, als wäre hier nie etwas Furchtbares passiert. Über ihnen kreisten aufgeregt die hungrigen Möwen. Offenbar hatten ein paar Fischer in der Bucht mit ihrem Fang angelegt. Die Sonne, die jetzt wieder hinter den Wolken hervorlugte, ließ ihr weißes Gefieder rosa schimmern. In Mimis Augen standen Tränen. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Einige Meter von ihnen entfernt stiegen Eltern samt ihren Kindern in ihren Wagen. Langsam rollte die Familie vom Parkplatz, an Mimi und Finnley vorbei, auf die Hauptstraße. Finnley warf ihr einen verunsicherten Blick zu. Schließlich kratzte er sich am Kinn. »Kommen Sie, lassen Sie uns bei mir einen Tee trinken.«
    Eine halbe Stunde später saß Mimi in der Fischerhütte auf einem Sessel am Fenster, in den Händen eine Tasse mit heißem Tee, und sah hinaus auf die Bucht, die im rötlichen Nachmittagsschimmer dalag. Finnley klapperte in der kleinen Küchenzeile mit der Pfanne. Auf dem Herd schmorten ein paar Tomaten mit Speck. Aus dem Toaster hüpften zwei Toasts. Alles zusammen stellte er mit Butter und Marmelade auf ein Tablett und kam damit zu Mimi herüber. Das Ganze stellte er auf dem kleinen Klapptisch neben ihrem Sessel ab. In den letzten Minuten hatte er immer wieder betont, wie schön der Abend mit Larissa und Jakob gewesen sei. Beinahe hätte er sich um Kopf und Kragen geredet. Offenbar, um Mimi zu signalisieren, dass sie nicht fürchten müsse, er würde sie mit Details der Flugzeugkatastrophe behelligen. Er umschiffte diesen Tag, den er da draußen in den tosenden Fluten hautnah miterlebt haben musste, wie einen schroffen Felsen im Meer – als sei Mimi seine kostbare Fracht, die er sicher an Land zurückbringen wollte. In seinem kleinen Ruderboot. Die eine Seele, die zu retten er nun endlich Gelegenheit bekam. Als müsste er Mimi warm einpacken, reichte er ihr eine Wolldecke. »Hier, falls Ihnen kalt ist.«
    Im Ofen knisterte das Feuer. Nein, es war nicht kalt. Es war gemütlich. Dennoch nahm sie die Decke und legte sie sich über die Knie. »Vielen Dank!«
    Sie nippte an ihrem Tee und schloss für einen Moment die Augen, als Finnley den Wohnraum verließ. »Bin gleich wieder da.«
    Kurz darauf hörte sie über sich auf dem Dachboden seine Schritte. Sie hörte, wie Kisten oder Möbel hin und her gerückt wurden. Hatte ihr Vater oder ihre Mutter auf diesem Ohrensessel gesessen, auf dem sie gerade saß? War etwas von einem von ihnen in die Füllung übergegangen? Ein paar Gedanken? Ein paar Gefühle? Ein bisschen Leben? Hatten sie von hier aus auf die noch ruhige See geblickt und an ihre Tochter gedacht, die sie nur für ein paar Tage bei ihrer Großmutter zurückgelassen hatten? Hatte ihre Mutter ihr im Souvenirladen einen kleinen silbernen Ring gekauft? Oder eine Schneekugel mit Leuchtturm? Hatte ihr Vater bei ihr gestanden und mit ihr hinaus auf die lieblichen Buchten gesehen, in Vorfreude, bald wieder zu Hause zu sein?
    Hätten die Eltern ihr nach ihrer Reise von Finnley berichtet? Von seiner Hütte, in der sie nun dennoch saß, ohne dass die beiden ihr davon hatten erzählen können. War das alles nicht ein kleines Wunder?
    Jetzt hörte sie neben sich ein Räuspern. Sie schlug die Augen auf. Finnley stand als Silhouette neben ihr. Inzwischen war die Sonne ganz im Meer versunken. Im Raum war es beinahe dunkel. »Hier, ich hab es gefunden.«
    Er reichte ihr ein gerahmtes Bild, das in Packpapier eingewickelt war. »Packen Sie es ruhig aus. Es gehört Ihnen.«
    Der Maler setzte sich ihr gegenüber in den Sessel und knipste die Stehlampe neben dem Fenster an. Dann beugte er sich vor, während Mimi vorsichtig das Bild aus dem Packpapier wickelte. Schließlich hielt sie es so ins Licht, dass sie das Gemalte gut erkennen konnte. Mimi warf Finnley einen überraschten Blick zu. Dann starrte sie wieder auf das Bild. Kein Zweifel! Das war sie! Als fünfzehnjähriges Mädchen. Auf einem der kissenartigen Felsen. Mit dem Rücken zum Betrachter, das Gesicht im Profil. Mit wehendem, blondem Haar. Mimi presste sich die Hand vor den Mund. Das war unglaublich! Das konnte doch nicht sein! Dieser Mann, der ihr gegenübersaß, hatte sie vor über zwanzig Jahren gemalt, ohne sie zu kennen. Und nun saß sie hier bei ihm, und er übergab ihr das Bild, das seine Eltern bei ihm bestellt hatten für ihre Tochter. Es war mysteriös, fast schon unheimlich.
    »Es sollte ein Geschenk für Sie sein«, sagte Finnley mit belegter Stimme. »Ihre

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