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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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fröhlicher Plappereien und fantastischer Träumereien, war er verstummt. Seit fünf Monaten hatte er nicht mehr geantwortet. Und sie brachte es nicht übers Herz, ihren bangen Eltern zu folgen. Was, wenn Jacques kam und sie nicht vorfand?
    Inzwischen war Clara furchtbar abgemagert, sie hatte all ihre mädchenhaften Rundungen verloren, aber kein Verlangen, sich etwas zu Essen zu machen. Genauso vernachlässigte sie die Galerie, was nicht schwierig war in diesen Zeiten, in denen die Künstler immer vorsichtiger wurden, das Land verließen oder ihre als »entartet« deklarierten Bilder versteckten.
    War Jacques aus Cadaqués fortgezogen, ohne es ihr mitzuteilen? Erreichten ihre Briefe ihn gar nicht mehr? Flatterten sie die Weinberge hinunter, über die Klippen aufs Meer hinaus, wo das Wasser die Tinte auflöste und das Blau der zärtlichen Worte sich im unendlichen Schwarz des Ozeans verlor, bis der zunehmende Wellengang die Seiten verschluckte wie kleine, blank gewaschene Flöße?
    So musste es sein. Anders konnte sie sich sein Schweigen nicht erklären. Sie liebten sich doch. Er hatte in diesem Sommer endlich zu ihr reisen wollen. In dieses Haus, ihr Waldblütenhain, um mit ihr gemeinsam ein erfülltes Leben mit vielen Kindern zu führen. Sie hatte malen wollen, während er sich um das Obst und die Bienen kümmerte. Ihre gemeinsame Zukunft war doch längst besiegelt gewesen. Ohne müde zu werden hatten sie ihr zukünftiges Leben in ihren Herzen beschworen, sich in Gedanken an den Händen gehalten, so lange, bis Clara erwachsen genug war, Jacques’ Frau zu werden. Das war der Traum, den sie ersehnte. Warum fing er nicht an?
    Von Natur aus war Clara unerschütterlich. Sie glaubte daran, dass Menschen ihr Wort hielten, dass sie so handelten, wie sie gesagt hatten. Welchen Grund sollte es geben, das nicht zu tun? Zweifel hatte sie nie gekannt, bis zu dem Moment vor fünf Jahren, als ihre geliebte Freundin Daria sich auf einmal von ihr abgewendet hatte. Sie war die Erste in Claras Leben, die sich ohne Erklärung zurückgezogen hatte, als erinnerte sie sich nicht mehr an sie. Mit einem Mal hatte sie, genau wie Jacques es jetzt tat, keinen von Claras Briefen mehr beantwortet, hatte ihre Fragen, ihre Bitten, schließlich ihr Betteln, ihr zu sagen, was zwischen ihnen so plötzlich vorgefallen war, ignoriert. Als hätten sie einander nie hoch oben auf den Klippen geschworen, sich für die andere von den Felsen zu stürzen. Bis heute wusste Clara nicht, warum sich Daria so verhalten hatte, und auch die Karte, die schließlich von Casado und seiner Frau Gala gekommen war, erklärte nichts. Die Karte war an Claras Eltern gerichtet gewesen. In ihr stand in kargen Worten, dass Daria geheiratet und einen Sohn geboren habe. Als junge Mutter und Ehefrau bleibe ihr kaum mehr Zeit für Konversation. Clara, die in dem Schreiben nur als »die kleine Clarissa« auftauchte, solle sich daher nicht über Darias Schweigen wundern. Das war’s. So war es zu Ende gegangen. Auch eine Einladung nach Cadaqués war nicht mehr ausgesprochen worden, ganz so, als erklärte sich das nach dieser Karte von selbst.
    Gerade als Clara das Fenster schließen und hinunter in die Küche gehen wollte, um sich einen Tee zu kochen, hörte sie von Ferne Motorengeräusch. Augenblicklich riss sie das Fenster auf und lehnte sich weit hinaus in die kalte Herbstluft.
    Zwischen den Baumkronen schillerte der gelbe Lack des Postautos hindurch. Unter den Erlen kam es direkt auf das Rondell zugefahren. Clara drehte sich um und schoss aus dem Zimmer, den Flur entlang und die Treppe hinunter. Um in der Eile nicht zu stürzen, klammerte sie sich am Geländer fest und sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter in die Halle. Sie riss die Haustür auf und stand auf der Veranda im Sonnenlicht. Sie winkte dem erstaunten Postboten lachend entgegen, der ihr in seiner Uniform feierlich, wie es Clara erschien, ein kleines Paket überreichte. »Für Sie, junge Dame.«
    Atemlos drehte sie es um. Ihr Herz schlug bis zum Hals hinauf. Ihre Hände zitterten. Er war von Jacques! Es war seine Schrift! Seine geliebte Schrift! »Danke! Danke!«, presste sie hervor, küsste das Paket und umarmte den Postboten überschwänglich.
    Noch auf der Veranda stehend, im milchigen Sonnenlicht des Oktobermorgens, riss sie das Paket auf, in dem ein vielfach geknickter Briefbogen lag und der Talisman, den sie von ihrer Mutter einst bekommen hatte. Ihr kleiner goldener Kompass. Am Hafen hatte sie

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