Je länger, je lieber - Roman
Kollege bringt uns zu sämtlichen Sehenswürdigkeiten, während ich Ihnen alles Wissenswerte über unsere außergewöhnliche Geschichte erzähle.«
Mimi klopfte noch einmal auf den Pferdehals, dass es staubte. »Okay. Vielleicht können Sie mir schon mal die erste Frage beantworten: Kennen Sie einen Jacques …«
»Jacques?« Der Kutscher lachte, als hätte Mimi einen Witz gemacht. Dann schob er seinen Zylinder in den Nacken und rieb sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. Obwohl ein sanfter Wind ging, war es für einen Septembertag außergewöhnlich heiß. »Junges Fräulein! Ich kenne viele Jacques. Jacques Dion. Jacques Boyd. Jacques …«
»Ich suche einen Jacques Barreto«, unterbrach sie den alten Mann und sah ihm in die matten, hellblauen Augen, die mit einem Mal nervös zuckten. Es war, als stünde seine Ehre als Stadtführer auf dem Spiel. Als müsste er Mimi unbedingt beweisen, dass er zweifellos jeden Stein und jedes Grasbüschel kannte und eigentlich auch jeden Jacques. Aber jetzt, wo sie Barretos Namen genannt hatte, schien er überhaupt nicht mehr Bescheid zu wissen. Offenbar wurmte ihn das gewaltig. Er lachte unsicher. »Hören Sie, entweder Sie wollen, dass ich Sie herumfahre, oder nicht. Aber vergeuden Sie nicht meine kostbare Zeit. Ich hab zu tun.«
Mimi sah sich um. Es war so früh am Morgen, dass die meisten Touristen noch in den Frühstücksräumen der Hotels beim Kaffee saßen. Nur ein einsamer schwarzer zotteliger Hund schnüffelte am Rand des Kais herum. Und ein paar Fischer liefen in Gummistiefeln über den asphaltierten Hafenplatz und zogen ihre mit Seegras verzierten Netze wie Neptuns Schleppe hinter sich her. Ansonsten war hier keine Kundschaft.
»Jacques Barreto soll aber hier gewohnt haben.« Sie beschloss, sich von der Unfreundlichkeit des Kutschers nicht beirren zu lassen. »Er soll ein Haus besessen haben. Vermutlich war er ein Zugezogener aus Spanien.«
»Ein Zugezogener aus Spanien, sagen Sie? Einer mit Strohhut und seltsamen Ledersandalen?« Schlagartig hellte sich die Miene des Kutschers auf. »Steigen Sie auf. Ich fahre Sie hin. Ist allerdings ein Stückchen. Und, besser ich sage es Ihnen gleich, nicht dass Sie Ihr Geld zurückhaben wollen. Er wohnt schon lange nicht mehr hier.«
Mimi ließ sich vom Kutscher, der ihr seine rissige Hand entgegenstreckte, beim Aufsteigen helfen und nahm auf der Rückbank des Gefährts Platz. Über ihr spannte sich der mit wattigen Wolkenschlieren durchzogene Himmel. Das gleichmäßige Klackern der Hufe auf dem Asphalt war neben dem Kreischen der Möwen das einzige Geräusch, das die Umgebung erfüllte.
Mimi rutschte auf dem schwarz lackierten Holzbrett nach vorn, um so viele Informationen wie möglich aus ihrem ehrgeizigen Stadtführer herauszubekommen. »Und wie lange lebt Jacques Barreto schon nicht mehr hier?«
Doch anstatt auf ihre Frage einzugehen, fing der Kutscher an, seine auswendig gelernte Stadtführung he runterzuspulen, als hätte er ein Band angestellt. »Lu nenburg ist Kanadas älteste deutsche Siedlung mit einer langen Fischerei- und Schiffbautradition und gehört mit seinen idyllischen Holzhäusern sowie seinen alten Kapitänsvillen zum UNESCO -Weltkulturerbe.«
Nachdem Mimi einen weiteren Versuch gestartet hatte, ihre ganz persönlichen Fragen loszuwerden, und dieser stoische Kutscher nicht darauf reagierte, lehnte sie sich zurück und entschied, die Fahrt zu genießen. Irgendwann mussten sie ja am Haus von Jacques Barreto vorbeikommen. Das Gefährt zuckelte die schmale, von blühenden Büschen und Holzhäusern gesäumte Straße bis zum Ende des Orts hinunter, bog dann nach links ab und fuhr die Parallelstraße wieder hinauf.
So ging es im Zickzack hin und her. An farbig gestrichenen Holzhäusern vorbei, die sich den Hügel hinaufstaffelten wie Zuschauer auf einer abschüssigen Tribüne, deren Arena der Hafen darstellte. Der Kutscher wies mal nach rechts, dann nach links, wobei er ununterbrochen Lunenburgs Vorzüge pries. Vermutlich Tag für Tag mit derselben Betonung, mit demselben Wortlaut. Stunde um Stunde. Fahrt für Fahrt. Seit Jahrzehnten.
Schließlich machten sie vor einem großen Schulgebäude im Fachwerkstil halt, dessen leuchtend rotes Schindeldach gerade neu gedeckt worden war und ganz offensichtlich eine Sehenswürdigkeit darstellte, für die der Kutscher erst wieder anfuhr, nachdem Mimi das aufwändig restaurierte Gebäude brav mit ihrem Handy fotografiert hatte. Endlich blieben sie vor einer
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