Je länger, je lieber - Roman
nichts mehr zu essen. Dummerweise hatte sie unterwegs nicht daran gedacht, sich an einer der Tankstellen ein Sandwich mitzunehmen. Wie ferngesteuert war sie auf der gewundenen Straße zwischen den mit hohen Zedern bewachsenen Felsen und den Wasserläufen hindurchgefahren, die sich in glasklarem Blau durch Neuschottland schlängelten und an deren Ufern sich zu beiden Seiten auf Stelzen gebaute Holzhäuser reihten.
Finnleys Bild stellte sie ins Licht der Schreibtischlampe. Ihr Blick heftete sich an das fünfzehnjährige Mädchen auf den Felsen. Furchtlos schaute es hinaus auf den Ozean, der sich bis zum Horizont erstreckte und mit ihm zum endlosen Raum verschmolz, während der Wind mit seinen blonden Haaren spielte. »Wo ist das abenteuerlustige Mädchen von damals hin?«, hatte Bruno sie gerade erst gefragt und sie dabei angesehen, als wollte er nicht akzeptieren, dass Mimi es einfach so hatte gehen lassen.
Es war noch da. Es saß da vorn, hinter Glas. Ganz nah. Und doch so fern. Nicht erreichbar für die Frau in Jeans und Pulli, die verlassen und hungrig auf der Bettkante eines Hotels in Neuschottland hockte. Und doch musste Mimi erstaunt feststellen, dass sie es in nur zwei Tagen bis hierher geschafft hatte. So weit fort. So weit zurück, bis zu dem Mädchen, das sie einmal gewesen war. Sie stand auf, ging zum Schreibtisch, streckte die Hand aus und strich mit den Fingerspitzen über das Mädchen hinter Glas. Wollte sie zu ihm in die gemalte Landschaft auf den Felsen? Oder sollte das Mädchen zu ihr kommen? Ins wahre Leben?
Nachdem sich Mimi im Badezimmer den Reisestaub vom Körper geduscht und die Zähne geputzt hatte, knipste sie im Zimmer das Licht aus und legte sich in Unterwäsche ins Bett. Gerade, als sie in den Schlaf hinüberdriftete, surrte ihr Handy auf dem Fußboden. Mimi sah über die Bettkante. Auf dem Display leuchtete Brunos Nummer auf. Sollte sie drangehen und mit ihm plaudern? Sollte sie ihm noch einmal sagen, wie besonders ihr nächtliches Schwimmen gewesen war? Dass sie immer wieder an seine Küsse dachte? Oder machte sie ihrem alten Freund Hoffnungen, die sie am Ende nicht einlösen konnte und ihre Vertrautheit, die nach all den Jahren immer noch spürbar war, zerstören würde?
Wo war ihr Mann jetzt? Lag er neben dieser Frau und schenkte ihr seine Nächte? Augenblicklich schnürte ihr diese Vorstellung die Luft ab. Doch bevor sie sich die schmerzhaften Bilder in allen Einzelheiten ausmalen konnte, nahm sie kurz entschlossen den Anruf entgegen. »Hallo, wie schön, dass du anrufst.«
Sie kuschelte sich in die Kissen und hörte Brunos warmer Stimme zu, die davon erzählte, dass er gerade durch die Straßen von Lissabon lief und sich wünschte, Mimi sei bei ihm. Er sprach so selbstverständlich mit ihr, als hätte er keinerlei Zweifel daran, dass sie sich bald wieder sehen würden. War sie verpflichtet, ihm zu sagen, dass ihre Ehe tatsächlich erst vor ein paar Tagen für sie völlig überraschend in die Brüche gegangen war? Wenn überhaupt? Sie wusste es ja selbst nicht einmal. Oder sollte sie besser abwarten, wie sich die Dinge entwickelten?
Im Hintergrund waren Autohupen und Verkehrsgeräusche zu hören. Es war angenehm, so zu liegen und von Bruno mit auf Reisen genommen und von ihm gefragt zu werden. »Wie geht es dir? Wo bist du?«
Die Einzige, die über ihren momentanen Aufenthaltsort Bescheid wusste, war Alice – und das auch nur aus professionellen Gründen. Es tat gut, es vor Bruno laut auszusprechen, auch wenn es fast unwirklich klang: »Ich bin gerade in Kanada. Um genau zu sein, in Neuschottland, an der Küste …«
»Du bist in Neuschottland?«, unterbrach er sie erstaunt. Es klang, als würde er gerade einen belebten Marktplatz überqueren. »So plötzlich? Was tust du da?«
»Ich … ich bin wegen meiner Eltern hier, aber das ist nicht der einzige Grund.« Mimi wartete einen Moment, bevor sie weitersprach. Auf Bruno musste es vermutlich einen etwas eigenartigen Eindruck machen, dass sie ihm neulich Abend nicht von ihrem Vorhaben erzählt hatte. Plötzlich kam es Mimi selbst merkwürdig vor. Was sollte diese Geheimnistuerei? Oder war sie es einfach nicht mehr gewohnt, ihre persönlichen Belange mit jemand anderem zu teilen? »Der eigentliche Grund ist, dass ich jemanden suche.« Sollte sie Bruno wirklich alles erzählen? Würde er sie verstehen?
»Du suchst jemanden? Wen?« Er klang ziemlich perplex. Vielleicht auch ein wenig betroffen, weil sie ohne ihn so weit
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