Je länger, je lieber - Roman
Eltern haben mir ein Foto von Ihnen gegeben und gesagt: »Es soll für unsere Tochter Yamyam sein. Das mutigste Mädchen der Welt. Eine Abenteurerin.«
Mimi liefen die Tränen über die Wangen. Ihr Kinn zitterte. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht laut loszuweinen. Sie sog die Luft durch die Nase tief ein und aus. Sie klammerte sich mit beiden Händen an den schmalen Bilderrahmen. Die Tränen tropften auf das Glas, auf das Mädchen, das sie war, das sie gewesen war. Auf die Felsen, den Himmel, die Möwen. »Es ist wunderschön. Vielen Dank«, presste sie hervor. »Danke, dass Sie es so lange aufbewahrt haben. Ja, ich bin eine Abenteurerin.« Sie schluchzte auf. »Sonst wäre ich ja nicht hier.«
»Ich wünschte nur«, seufzte Finnley, »es gäbe einen anderen Grund, warum ich derjenige bin, der Ihnen das Bild überreicht. Aber ich bin froh, dass Sie es überhaupt bekommen. Ihre Eltern haben mir viel Hinreißendes von Ihnen erzählt. Sie haben Sie sehr geliebt.«
Mimi musste sich beherrschen, nicht vor Überwälti gung wegzulaufen. Der Schmerz krampfte ihr Innerstes zusammen. Ihre Schultern bebten. Sie vermisste ihre Eltern so sehr. Und doch war sie ihnen in diesem Augenblick so unglaublich nah. Schnell wischte sie sich mit der Hand über die Augen und hielt sich tapfer mit ihrem Blick an Finnleys Blick fest. Dann wagte sie ein zaghaftes Lächeln. »Ich freue mich auch darüber. Vielen Dank, Finnley.«
20
Waldblütenhain, 1933
Seit dem frühen Morgen stand Clara mit wirren Locken am Fenster ihres Schlafzimmers im ersten Stock. Sie trug einen weiten Hosenanzug und eine Strickjacke. Enge Blusen mit Stehkragen, schmale, lange Röcke und geknöpfte Kostümjacken, wie sie derzeit Mode waren, waren ihr ein Graus. Angespannt blickte sie die Auffahrt hinunter, die vom herbstlich gefärbten Laub der Erlen zu großen Teilen verdeckt wurde, sodass das gelbe Postauto für gewöhnlich erst kurz vor dem Rondell unter den Bäumen auftauchte. Sie hatte extra das Fenster geöffnet, um das knatternde Motorengeräusch so rechtzeitig wie möglich aus dem Wald herausschallen zu hören.
Sie lauschte mit angehaltenem Atem.
Doch da war nichts als das gleichmäßige Rauschen des Lebens. Das zarte Rascheln der trockenen Blätter. Das entfernte Zwitschern der Vögel. Das Gurren der graublauen Tauben, die sich, versteckt in den Zweigen, niedergelassen hatten. Ab und an stürzte ein morsches Ästchen auf die Rasenfläche, die sich bis zur hohen, efeubewachsenen Backsteinmauer am Waldessaum erstreckte. Claras Brust fühlte sich wie zugeschnürt an. Die Luft um sie herum schien ihr mit viel zu wenig Sauerstoff angereichert zu sein. Es kam ihr vor, als würde sie nicht atmen können. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie ihr Leben einmal mit Warten und nich t mit Malen verbringen würde. Mit elendem, lähmendem Warten, das sich mit dem ersten Augenaufschlag am Morgen unaufhaltsam in ihr Zimmer und das gesamte Haus ergoss wie zähflüssige, glühende Lava, die am Abend zu einer harten, schwarzen Gesteinsmasse erstarrte und schwer auf ihr lastete, bis sie unruhig und voller Erschöpfung in den Schlaf floh.
Ihre Eltern hatten das Waldgrundstück mit dem heruntergekommenen Haupthaus und dem verfallenen Gesindehaus zu Beginn des Jahrhunderts gekauft und renoviert. Für sie als Kunsthändler waren es aufregende und lohnende Jahre gewesen. Oft waren kuriose Künstler oder reiche Sammler zu ihnen zu Besuch gekommen und hatten in den Gästezimmern übernachtet. Sie hatten Claras erste künstlerische Versuche anschauen wollen und lustig oder ernsthaft mit ihr darüber gesprochen. Doch seit ihr Vater und ihre Mutter Deutschland aufgrund der politischen Lage den Rücken gekehrt und in die USA ausgewandert waren, blieben die Besucher aus. Die beiden hatten dieses Haus belebt, das nun zu ihrem Mausoleum geworden war und zum Gefängnis ihrer einzigen Tochter. Alles Leben war zum Erliegen gekommen.
Clara öffnete kaum noch die Fensterläden. Die Türen zu den anderen Zimmern hatte sie abgeschlossen. Im Wintergarten, wo ihre Staffelei stand, war sie lange nicht mehr gewesen. Längst waren die Äpfel und Birnen im Obstgarten ins hohe Gras geplumpst und verfaulten. Clara hatte keine Kraft, sie einzusammeln, im Keller für die kalte Jahreszeit zu lagern, Gelee einzukochen, Saft zu mosten oder sie einfach zu essen. Warum ließ Jacques sie warten? Auf die letzten Briefe, die sie ihm geschrieben hatte, seitenlange Briefe, voller Sehnsucht,
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