Je länger, je lieber - Roman
Hinter ihr wehte das trockene Gebüsch wie ein riesiger Reisigbesen, als sie mit den Beinen strampelnd das Fensterbrett erklomm. Die Zweige knackten, Blätter rieselten zu Boden, und Mimi riss sich einen dicken Splitter in den Handballen. Doch die Euphorie darüber, hier etwas zu tun, was sie in ihrem Leben nicht für möglich gehalten hätte, überlagerte den Schmerz vollkommen. Sie hockte in Kanada auf einem Fensterbrett und war im Begriff, unerlaubterweise in eine alte Villa einzusteigen. Was wohl René dazu sagen würde, sie hier sitzen zu sehen? Würde er in ihr überhaupt noch seine Ehefrau erkennen? Hatte Mimi ihm und damit auch sich selbst all die Jahre ihr wahres Ich vorenthalten, das jetzt langsam, aber stetig wieder zum Vorschein kam? Würde René die echte Mimi überhaupt mögen? Oder wäre sie ihm zu impulsiv?
Sie sah in den dunklen Raum hinein, in den die Sonne ein einziges leuchtendes Rechteck malte, in dem sich ihre schwarze Silhouette abzeichnete. Dann stieß sie sich mit den Füßen ab und landete auf knarrenden Holzdielen. Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, klopfte sie sich den Staub von den Händen und strich sich die Haare zurück. Mutig machte sie einige Schritte in das Zimmer, in dem mit weißen Leinentüchern überdeckte Möbel standen. Von der Decke hing ein geflochtener Lampenschirm. Es war noch das gemeinsame Leben zu spüren, das Menschen in diesem Zuhause verbracht hatten, so, wie Mimi und René in ihrem Zuhause ein Leben verbracht hatten. Man bewohnte Räume, und wenn man aus ihnen aufbrach, ließ man etwas von sich selbst darin zurück. Was hätte ein Fremder gedacht, wenn er in ihrem Bungalow gestanden hätte? Welches Leben hätte er dort gesehen? Das von einem vielbeschäftigten, kinderlosen Paar, das nicht einmal Zeit hatte, das Toasterkabel reparieren zu lassen und die vergammelten Kiwis zu entsorgen? Wie sollten solche gehetzten Menschen es schaffen, sich um ihre Gefühle zu sorgen? So betrachtet, war es kein Wunder, was aus René und ihr geworden war. Die Menschen aus diesem Haus waren übereilt aufgebrochen. Sonst hätten sie bestimmt ihre Möbel mitgenommen, die ihnen doch so wertvoll waren, dass sie Laken darüber gedeckt hatten. Würde Jacques noch einmal zurückkehren, oder war er längst gestorben? Gab es für Mimi noch ein Zurück? Oder war sie bereit, ihr altes Leben loszulassen, um ein neues zu beginnen?
Sie atmete tief durch. Sie musste jetzt bei der Sache bleiben. Sie hatte eine Mission zu erfüllen. Außerdem war sie gerade dabei, das Gesetz zu brechen. Was, wenn gleich jemand zur Zimmertür hereinkam? Was, wenn das Haus gar nicht unbewohnt war? Der Kutscher hatte nur gesagt, dass Jacques hier nicht mehr mit seiner Mutter lebte. Aber er hatte nicht gesagt, dass gar keiner mehr hier wohnte. Draußen stand kein Schild, auf dem das Haus zum Verkauf angeboten wurde! Wenn sie hier noch länger herumgrübelte, würde sie definitiv erwischt werden. Die Dielen knarrten entsetzlich laut unter ihren Schritten, als sie vorsichtig das Zimmer bis zur Tür durchquerte, die in den Flur führen musste. Sie streckte die Hand aus, legte sie auf die Klinke und zog die Tür auf.
24
Arles, 1938
Entmutigt kehrte Jacques in der Dämmerung zurück. Vor dem Haus, unter den Platanen parkte er sein Motorrad, mit dem er die Feldwege und die Straßen der Umgebung abgesucht hatte. Er war in die Weinberge hinaufgefahren, hatte seine Erntehelfer antreten lassen, hatte im Dorf die Anwohner befragt, aber überall hatte er nur in ratlose Gesichter gesehen. Niemand hatte etwas gewusst oder gehört. Wie konnten eine Frau und ein neunjähriger Junge spurlos verschwinden? Wann waren sie aufgebrochen? Mitten in der Nacht? Im Morgengrauen? Warum hatte er von all dem nichts mitbekommen?
Das gelbe Haus stand da, wie er es am Morgen verlassen hatte. Die Fensterläden waren geschlossen. Niemand hatte sie während seiner Abwesenheit geöffnet. Drinnen brannte das Licht nicht wie sonst um diese Zeit. Die Hoffnung, dass sie vielleicht wieder da sein würden, wenn er zurückkam, diese Hoffnung, die ihn durch den Tag gerettet hatte, erstarb. In den vielen Stunden, die er unter dem strahlend blauen Himmel die Straßen abgefahren war, hatte er sich wieder und wieder den Augenblick ausgemalt, wie er am Abend zurückkehren und sehen würde, dass in der Küche schon Licht brannte. Wie er zur Tür hereinstürmen und Daria dort, inmitten ihres Heims, stehen sehen würde. In ihrer ganzen Schönheit. Wie er sie
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