Je länger, je lieber - Roman
rosafarbenen Holzvilla stehen, die hinter Büschen und Bäumen versteckt lag. Das zweigeschossige Gebäude war mit Erkern und Türmchen besetzt, wie eine Hochzeitstorte. Aus dem grauen Schindeldach ragte ein Schornstein in den blauen Himmel. Obwohl hinter den Fenstern Gardinen hingen, spürte Mimi sofort, dass dieses Haus schon sehr lange nicht mehr von einem Menschen betreten worden war.
»Hier ist es.« Zum ersten Mal seit der Fahrt drehte sich der Kutscher zu ihr um und nahm seinen Zylinder ab. »Hier hat Ihr Jacques Barreto gewohnt. Bis er von einem auf den anderen Tag verschwunden ist. Fragen Sie mich nicht, wohin. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es hier.«
Mimi rutschte auf der Bank nach vorn. Mit so wenigen Informationen ließ sie sich nicht abspeisen. »Hatte denn niemand im Ort Kontakt zu ihm?«
Er lachte höhnisch. »Sie meinen, dass er draußen auf der Straße mit Leuten herumgestanden und geplaudert hat?«
»Ja, zum Beispiel.«
»Nein. Wir haben ihn alle kaum zu Gesicht bekommen. Er hat uns aber auch nicht weiter interessiert. Genauso, wie er sich offensichtlich nicht für uns interessiert hat.« Der Kutscher machte mit einem Mal einen etwas beleidigten Eindruck, als hätte er persönlich gehofft, Jacques Barretos Freund zu werden.
Mimi kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, als könnte sie auf diese Weise durch die Erzählungen des alten Mannes in die Vergangenheit blicken. »Was wollte er dann hier?«
Er zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich. Ihm hat die Fischfabrik unten am Hafen gehört. Seine Geschäfte hat er von zu Hause erledigt, damit er sich um seine bettlägerige Mutter kümmern konnte. Soviel ich weiß, hat er die Fabrik allerdings verkauft, bevor er verschwunden ist.«
Mimi nickte und richtete ihren Blick aufs Haus. Warum besaß ein Spanier aus einer Weingegend eine Fischfabrik in Kanada? Konnte das sein? »Haben Sie vielen Dank. Was bekommen Sie von mir?«
»Fünf Dollar.«
Mimi nestelte in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie. Gerade als sie den Kutscher bezahlen wollte, schnalzte die Peitsche in der Luft, und das Gefährt ruckte zu ihrer Überraschung wieder an. »Junge Dame, Sie können hier nicht einfach aussteigen. Die Fahrt endet, wo sie begonnen hat. Am Hafen.«
»Aber …« Sie klammerte sich an der Lehne des Kutscherbocks fest. Sie spürte, wie der Ärger nun doch langsam in ihr aufstieg. »Aber ich möchte gern hier aussteigen.«
»Kommt nicht infrage!«
Der dickköpfige Stadtführer knallte mit den Zügeln auf das Hinterteil des Pferdes, und die Kutsche fuhr schneller als zuvor, sodass Mimi sich an den Griffen festhalten musste. Schließlich nahm sie sich ein Herz. Wie ein Kind im Schulbus, das den mürrischen Busfahrer bittet, zwischen zwei Haltestellen anzuhalten. »Halten Sie bitte an! Ich will hier raus!«
Und tatsächlich wurde ihr nach einigen Metern der Wunsch erfüllt, indem die Kutsche mit einem gehörigen Ruck zum Halten gebracht wurde. »Sie machen mir meine Tour kaputt. Das ist ausgesprochen unhöflich!«
Auf diese Empfindlichkeit konnte Mimi jetzt keine Rücksicht nehmen. Eilig gab sie dem knurrenden Kutscher das Geld. »Der Rest ist für Sie.« Sie sprang ab und rannte in der frühen Vormittagssonne die leere, von blühenden Büschen und Rhododendren gesäumte Straße zurück zu dem rosafarbenen Haus. Auch wenn dieser alte Knurrhahn mehr als unangenehm gewesen war, hatte sie doch wichtige Neuigkeiten in Erfahrung gebracht, die sie ihrem Ziel immer näher brachten. Jacques hatte also einen Strohhut und seltsame Ledersandalen getragen. Zum ersten Mal hatte sie eine gewisse Vorstellung von Claras großer Liebe.
22
Arles, 1938
An diesem Morgen war etwas anders. Jacques spürte es sofort, als ihn der Schlaf freigab und in den Tag entließ. Ohne dass er die Lider geöffnet hatte, wusste er, dass in der Nacht etwas Furchtbares passiert war. Er streckte den Arm aus und tastete neben sich das Laken ab. Seine Hand griff ins Leere. Sie war fort. Wie er es geahnt hatte. Und doch hatte er einen süßen Moment lang noch gehofft, nur schlecht geträumt zu haben.
Atemlos fuhr er auf. »Daria?« Seine Stimme klang rau, als hätte er seit Jahren nicht mehr gesprochen. Die bodenlangen Vorhänge vor den hohen Fenstern waren nicht ganz zugezogen und ließen einen schmalen, gleißenden Lichtbalken zu ihm ins Schlafzimmer, der sich wie eine silberne Schärpe über den Stuhl legte, auf dem seine Kleider hingen, und über die Waschschüssel auf der
Weitere Kostenlose Bücher