Je länger, je lieber - Roman
sich auch bemühte, die Vergangenheit zu erspüren, Fetzen längst geführter Gespräche zu hören, hier war nichts als ein Raum mit leeren Bücherregalen und einem Bettgestell.
Zurück im Flur, blieb ihr Blick an der hellen Kommode hängen. Sie legte ihre Hände auf die Griffe der obersten Schublade und zog daran. Stück für Stück öffnete sich die Lade. Darin lagen Visitenkarten, eine Postkarte von Dotty’s Cove, ein paar Restaurantquittungen und Fotos. Da das Licht im Flur schlecht war, nahm sie die Fotografien heraus, um sie sich am Fenster genauer anzusehen.
»Was tun Sie hier?«
Mimi fuhr herum und starrte in das ebenso erschrockene Gesicht einer jungen Frau, die gerade die Treppe heraufgekommen war und sich bereit machte, mit einem schweren Schlüsselbund nach ihr zu werfen. »Ich warne Sie! Eine falsche Bewegung, und Sie liegen am Boden!«
»Bitte nicht!« Beschwichtigend hob Mimi eine Hand, mit der anderen versteckte sie eilig die Fotos hinter ihrem Rücken im Hosenbund. »Ich wollte nicht … ich meine … ich hatte nicht vor… ist das Ihr Haus? Wohnen Sie hier?«
Die junge Frau, die in einem grauen Kostüm steckte und zu ihrem dunklen Bob große goldene Kreolen trug, war bestimmt nicht älter als Anfang dreißig. Sie schüttelte den Kopf, wobei ihre goldenen Ohrringe tanzten. »Ich bin Immobilienmaklerin. Und wer sind Sie?«
Mimi nahm die Hand langsam wieder herunter und lächelte so unbefangen wie möglich. »Ich bin Mimi Bachmann und suche den Besitzer dieses Hauses.«
Nachdem Mimi der Immobilienmaklerin Belle McCall ausführlich den Grund ihres Einbruchs erklärt hatte, saßen sie zusammen auf der Terrasse eines Hummerrestaurants am Hafen und blickten über den leeren Parkplatz hinüber zur Kaimauer, wo der Kutscher schon wieder auf Touristen wartete. Dahinter lag das Wasser ruhig im Hafenbecken. An den Stegen waren einige wenige Motorboote befestigt. Die Hummerkutter würden erst gegen Sonnenuntergang vom Meer zurückkehren, erklärte Belle und nahm einen Schluck von ihrem eisgekühlten Wasser.
Sie hatte ihre hellgraue Kostümjacke über die Stuhllehne gehängt und die Ärmel ihrer Bluse bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Sie zwinkerte verschmitzt: »Was für eine aufregende Geschichte! Ich hoffe, Sie finden diesen Mann, der Ihrer Großmutter das Herz gebrochen hat!« Neidisch blickte sie Mimi an. »In meiner Familie hat es nie solche Verwicklungen und großen Gefühle gegeben. Wir leben seit jeher in diesem Kaff, und so wird es wohl auch bleiben. Mein Verlobter kommt auch von hier. Er leitet drüben das Schifffahrtsmuseum und das Aquarium.«
»Ich wollte Sie trotzdem nicht erschrecken«, entschuldigte sich Mimi zum wiederholten Mal. »Um ehrlich zu sein, ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist. Ich hätte einfach …«
Belle lachte. »Ist schon okay. Ich bin dankbar für jede Abwechslung. Vermutlich habe ich Sie ohnehin mehr erschreckt als Sie mich. Es kommt öfter vor, dass sich Landstreicher nachts in die zum Verkauf stehenden Häuser schleichen und dort schlafen. Morgens verschwinden sie dann für gewöhnlich wieder. Aber Sie sahen mir nicht gerade wie eine Landstreicherin aus.«
»Na ja.« Mimi schaute an sich herunter. Das Klettern hatte grüne Moosflecken auf ihrer Jeans und dem T-Shirt hinterlassen. »Ich werde natürlich für den verursachten Schaden aufkommen und das Fenster reparieren lassen.«
Belle hob die Hand, als wollte sie das Thema vom Tisch wischen. »Kommt nicht infrage! Ich finde es großartig, wie Sie sich für die geheimnisvolle Liebe Ihrer Großmutter einsetzen. Ich bin schon gespannt, wie die Story weitergeht.« Sie grinste. Ganz offenbar hatte die junge Frau ihre Freude an dem kleinen Zwischenfall. So als hätte sich hier in diesem verschlafenen Nest schon lange nichts Spannendes mehr ereignet.
Mimi räusperte sich. »Steht denn das Haus zum Verkauf? Ich habe draußen gar kein Schild gesehen.«
»Nun ja.« Belle zog aus ihrer Umhängetasche einen Ordner, klappte ihn auf und warf einen kurzen Blick hinein. »Von der Stadtverwaltung habe ich gestern erst den Auftrag bekommen, mir einen Eindruck vom Zustand der Immobilie zu verschaffen. Darum stand noch kein Schild da. Es ist ein besonderer Auftrag, diese nostalgischen Holzhäuser sind äußerst beliebt. Sogar bei Leuten aus Hollywood. Die blättern eine ziemliche Stange Geld hin, um hier in Lunenburg ein bisschen zu entspannen. Fern ab von dem ganzen Medienrummel.«
Mimi blinzelte in die Sonne, die nun
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