Je länger, je lieber - Roman
Wunder, dass Daria sie nicht schon viel früher entdeckt hatte. Womöglich war sie auf die Bündel auch schon vor langer Zeit gestoßen und hatte nur auf einen günstigen Moment gewartet, um spurlos zu verschwinden. Vielleicht hatte sie sogar Jahre mit Warten zugebracht, bis Pedro groß genug war, um zu verstehen, warum sie Jacques verlassen mussten. Der Gedanke drückte ihm das Herz zusammen.
Mit zittriger Hand nahm er den obersten der Briefe und hielt ihn ins einfallende Licht.
Dieser Brief war beinahe so alt wie sein Sohn. Unschuldig sehnend hatte sich Clara damals an ihn gewandt. Jacques hörte ihre Stimme, die leise mitsprach, während sie ihm diese Zeilen geschrieben hatte.
Jacques! Mein Geliebter! Ich wünschte, Du könntest dieses Paradies sehen! Unser Garten ist verwildert. Ungestüm. Er ist wie meine Liebe zu Dir! Sie summt und surrt und plätschert und gurrt. Sie rankt sich um alles, sie streckt ihre Äste, Zweige und Triebe nach Dir aus, sie dehnt sich Tag für Tag ins Unermessliche aus, um Dich zu mir, über die Meere, in mein Paradies zu holen. Ich liebe Dich. Ich vermisse dich, Geliebter.
Jacques kannte diesen Brief wie alle anderen auswendig. Jedes Wort. Jedes Satzzeichen. Jeden Buchstaben.Jeden Tintenklecks. Diese Briefe hatten ihn die vergangenen Jahre wie geheime Vertraute begleitet. Es hatte nicht einen Tag gegeben, an dem Claras zärtliche Worte ihn nicht wie Schmetterlinge umflort hätten. Und doch wusste er in diesem Moment noch sicherer als vor fünf Jahren, als er sie mit seinem brutalen Brief endlich über die Wahrheit in Kenntnis gesetzt hatte, dass er niemals durch den Wald zu seiner Goldblüte kommen würde. Niemals, und nun erst recht nicht. Darias Abschied hatte ihn nicht frei gemacht, er hatte ihn ins Unrecht gesetzt. Seine Fürsorge war aufrichtig gewesen. Eines Tages würde sie das erkennen und zu ihm zurückkehren. Er wollte sie erwarten. Nie sollte sie an dem Versprechen zweifeln, das er ihr zur Hochzeit gegeben hatte. Bis dass der Tod uns scheidet. So hatte er es gelobt. Daran würde er sich halten.
25
Lunenburg, 2013
»Hallo?« Mimi stand in der dämmrigen Halle von Jacques Barretos ehemaligem Zuhause und lauschte. Als keine Antwort kam, rief sie noch einmal etwas lauter die Treppe hinauf, an deren Handlauf ein Sitzlift angebracht worden war. Vermutlich für seine bettlägerige Mutter. »Hallo?«
Außer ihr schien tatsächlich niemand da zu sein. Auf den Dielen lag ein zusammengerollter Teppich. Daneben standen zwei übereinandergestapelte Stühle mit geflochtener Sitzfläche. Sie warf einen Blick in den angrenzenden Raum, der zur Straße hinausging. Hier dösten zwei mit Laken verhüllte Sessel und ein Sofa um einen gemauerten Kamin herum. Den Verfärbungen der Wand nach zu urteilen, musste einmal ein großes Gemälde darübergehangen haben. Womöglich das, welches Jacques ihren Eltern hatte verkaufen wollen? Es roch nach Staub und zwanzig Jahre alter Luft. Mimi war, als hätte all das Vergangene in diesem Haus nur auf einen Zeugen gewartet, um für ihn noch einmal sichtbar zu werden. Wie ein Regenbogen am Horizont, dem allein durch die Augen des Betrachters die Existenz geschenkt wurde.
Mimi legte die Hand aufs staubige Treppengeländer und wagte einen Schritt auf die unterste Treppenstufe. Dabei atmete sie aus, als könnte sie ihren Körper dadurch leichter und den Schritt unhörbar machen. Und doch knarrte und ächzte das spröde Holz unter ihrem Fuß. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. War es falsch, was sie hier tat?
Sie nahm eine weitere Stufe und dann noch eine, bis sie ihren Fuß oben im ersten Stock aufsetzte. Auf den Dielen lagen weinrote, mit Ornamenten verzierte Läufer. Eine einfach gearbeitete Kommode aus hellem Holz war an die Wand gerückt. Dinge, die eher in eine spanische Finca gepasst hätten als in eine holzverschalte Villa in Kanada. Warum nur hatte Jacques bei seinem Weggang beinahe seine gesamte Einrichtung zurückgelassen? War er übereilt aufgebrochen? Hatte er vorgehabt zurückzukehren?
Mimi steuerte auf eine der geschlossenen Zimmertüren zu und drückte die Klinke herunter. Durch die zarten Gardinen, die vor den Fenstern hingen, fiel das Sonnenlicht mild auf den Holzboden. Sie trat an eines der Fenster und blickte in den verwahrlosten Garten hinunter. Auf dem Nachbargrundstück sprang ein kleiner Hund einem gelben Ball hinterher. Sein Kläffen drang gedämpft zu ihr herauf.
In das nächste Zimmer warf sie nur einen kurzen Blick. Sosehr sie
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