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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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Kommode.
    »Daria?« Jacques lauschte angespannt. Doch es blieb gespenstisch still. Seine entsetzliche Ahnung durfte sich nicht bewahrheiten. Mit nacktem Oberkörper und Pyjamahose sprang er aus dem Bett und eilte ans Fenster. Er riss die Vorhänge zur Seite und war für einen Moment geblendet vom Licht, das plötzlich zu ihm ins Zimmer drang. Blinzelnd blickte er hinaus in die Luft des Morgens, hinaus in den flirrenden Garten, der sich mit seinen Buchsbaumhecken, blühenden Oleanderbüschen und hintereinander gereihten Zypressen anmutig bis hinauf zu den Weinbergen erstreckte. Nirgends waren sie zu sehen. Nicht auf der Terrasse beim Frühstück, nicht auf den sandigen Wegen beim Käfereinsammeln. Auch auf der Bank vor dem Wasserspiel saßen sie nicht.
    »Daria?«
    Jacques stürmte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter in die Küche. Niemand war da. Auf dem Holztisch lag ein Zettel unter dem Zuckertopf. Er überflog die Nachricht, die seine Frau ihm hinterlassen hatte. Es waren nur zwei Sätze.
    Jacques, mein Treuester. Suche uns nicht. Du hast uns schon zu viele Jahre Deines Lebens und Deiner Liebe geschenkt. Geh dorthin, wohin Du gehörst. Sie wartet auf Dich. In Dankbarkeit, Daria & Pedro
    Jacques fuhr herum. Wie lange waren sie schon fort? Seine Frau? Sein Sohn? Seine Familie, alles, was er hatte? Er zog die Terrassentür mit Schwung auf und stürmte barfuß hinaus in den Garten. Er rannte den sandigen Weg entlang, vorbei an den Rhododendren und den Granatapfelbüschen, an denen die reifen, knallroten Früchte hingen, vorbei am Goldfischbecken bis zum schmiedeeisernen Tor. Dahinter erstreckte sich die Platanenallee in der morgendlichen Hitze hinunter bis zur Landstraße, unerträglich leer, als wäre darauf schon ewig niemand mehr gegangen.
    Wo waren sie?
    Jacques’ Herz pochte. Sein Atem ging stoßweise. Seine Lippen waren trocken. Hatten sie ihn wirklich hier allein zurückgelassen, oder hing er noch immer in einem Albtraum fest? Schlafwandelte er unter dem beinahe wolkenlosen, sattblauen Himmel? Umgeben vom Zirpen der Grillen?
    »Hallo!« Sein heiseres Rufen hallte über das Land. »Hallo!« Er ruckelte kräftig am eisernen Tor, um diese Hilflosigkeit aus sich herauszuschütteln. »Hallo!«
    Sie hatten ihn verlassen, nicht wahr? Es kam ja keine Antwort. Warum jetzt? Was hatte er ihnen getan? Auf seinen gebräunten Armen und den Schultern bildete sich Gänsehaut. Konnte es denn nicht sein, dass er noch schlief? Würde er gleich aufwachen und seine Familie wieder bei ihm sein? Würde Daria ihm den Angstschweiß von der Stirn tupfen und flüstern: »Du hast nur schlecht geträumt. Wir sind bei dir. Alles ist gut.«
    Sämtliche Muskeln seines Körpers angespannt, blieb er abwartend zwischen den Rhododendren stehen. Aber nichts passierte. Nur diese betäubende Stille nahm unaufhaltsam zu. Wie lange waren sie schon fort? In welche Richtung waren sie verschwunden?
    »Daria?« Schließlich öffnete er das Tor und trat hinaus auf die staubige Allee. »Hallo?« Seine immer leiser werdende Stimme erstickte in der Hitze des anbrechenden Tages. Nur die blätterbepackten, gewaltigen Kronen der riesigen Laubbäume rauschten leise. Es war sinnlos. Er brauchte nicht mehr zu rufen. Er wusste es. Seit acht Jahren fürchtete er sich vor diesem Tag. Er hatte gewusst, dass er kommen würde. Egal, wie sehr er Geborgenheit gab. Egal, wie sehr er liebte. Egal, wie sehr er Vater und Ehemann war. Je mehr er ihnen gab, umso schneller rückte der Tag näher, an dem sie es nicht mehr annehmen konnten. Und doch hatte er gehofft, dass dieser Verlust ihm erspart bleiben würde.
    Er drehte sich um und ging langsam zu dem großen, in hellem Gelb getünchten Haus zurück, in dem sie die letzten fünf Jahre gelebt hatten, nachdem sie ihre Heimat, um neu anzufangen, verlassen hatten. Der Weinanbau auf den terrassierten Hängen lohnte sich. Casado hatte sich mit Geld beteiligt, damit sie sich dieses kleine Gut leisten konnten. Als Katalanen waren sie hier schnell heimisch geworden.
    Zumindest hatte er das gedacht.
    Er trat zurück in die Küche, in der eine Fliege unablässig gegen die Fensterscheibe prallte. Ihm war, als gäbe es ihn nicht mehr. Ihm war, als wäre alles, was er war und sein konnte, mit ihrem Weggang ausgelöscht worden. Er war ein seelenloses Gefäß, in dem ein einsames, aufgeregtes Herz klopfte und die Lungen schwerfällig ihre Arbeit taten. Wer hatte Daria geholfen, von hier fortzukommen? Hatte sie ihre Flucht geplant? Wem hatte

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