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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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sie sich anvertraut? Mit wem hatte sie zuletzt gesprochen? Mit einem der Erntehelfer? Hatte sie diesem Jemand Geld geboten? Wer half seiner Frau und seinem Sohn, aus seinem Leben zu verschwinden? Wer tat so etwas Grausames? Er liebte sie doch! »Such nicht nach uns!« Was dachte Daria, was er tun würde? Es einfach so akzeptieren, dass sie spurlos verschwanden? Niemals! Er hatte seiner Frau und seinem Sohn ein Versprechen gegeben. Er hatte versucht, das Mädchen mit den blonden Locken zu vergessen und aus seinem Leben zu verbannen. Er hatte es kaltherzig verstoßen und sich selbst überlassen, als Beweis dafür, dass sein Versprechen galt, ein guter Mann und Vater sein zu wollen. Warum zählte das nicht? Warum sprach gegen ihn, dass er dieses Mädchen, das mit jedem ihrer Briefe mehr und mehr zu einem Teil von ihm geworden war, nie wieder sehen würde? Er hatte doch aufgehört, ihr zu schreiben, Was noch hätte er tun können, um Daria seine Loyalität zu zeigen? Bestimmt war Clara längst verheiratet, hatte Kinder und dachte nicht mehr an ihn. Sie war eine Jugendliebe gewesen, eine Schwärmerei, eine Träumerei. Eine Fantasie. Nichts Wirkliches. Das zumindest redete er sich ein, um sie jeden Tag aufs Neue loszulassen. Er würde gleich aufbrechen und alle Wege dieser Welt nach seiner Familie absuchen, um diesem furchtbaren Tag zu entkommen. Noch einmal ließ er sich nicht seine Zukunft nehmen.

23

    Lunenburg, 2013
    Mimi lief quer über den vergilbten Rasen auf die Eingangstür zu. Sie sprang die beiden Holzstufen hinauf, von denen die weiße Farbe abblätterte, und warf einen hoffnungsvollen Blick auf das Namensschild. Dort stand tatsächlich: Barreto. Kaum zu glauben. Sie stand vor seinem Haus! Hier hatte er gelebt! Der Mann, der ihrer Großmutter all die zärtlichen Karten geschrieben und dann das Herz gebrochen hatte. Der Mann, wegen dem ihre Eltern hierhergekommen waren und nun auch sie.
    »Guten Tag, Mister Jacques Barreto«, murmelte sie und ruckelte an dem schmiedeeisernen Türknauf. Bis auf einen unwilligen Knirschlaut war die Tür allerdings zu keiner Regung bereit. Mimi machte einen Schritt zur Seite und versuchte, einen Blick ins Innere zu erhaschen, indem sie mit dem Gesicht dicht an das schmale Fenster links der Tür heranging. Doch das Glas war von der rückwärtigen Seite angeschliffen worden, sodass sie nichts erkennen konnte.
    Also lief sie um die rosafarbene Holzvilla herum. Die Kellerfenster waren mit Gittern versehen, und die Erdgeschossfenster lagen so hoch, dass Mimi mit den Fingerspitzen nur bis zum Sims reichte. Allzu lange wollte sie hier nicht vor den Fenstern herumstreunen, um nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich zu lenken. Denn sie hatte sich bereits dazu entschlossen, in das zweistöckige Haus einzusteigen. Was blieb ihr anderes übrig, wenn sie etwas über Jacques’ Verbleib herausfinden wollte? Stimmte es, was der Kutscher gesagt hatte, war er ein verschlossener Mann gewesen, ohne Kontakt zu den Lunenburgern?
    Im Schutz eines verkümmerten Gebüschs stellte sich Mimi auf die Zehenspitzen und ruckelte an einem der Fensterrahmen. Das morsche Knacken hallte über den Garten, direkt zum hinter ihr liegenden Nachbarhaus, das sie mit seinen dunklen Fenstern über den Lattenzaun hinweg zu beobachten schien. Warum war es in diesem Ort nur so still? Kein vorbeifahrendes Auto durchbrach die Stille. Kein Baustellenlärm. Keine Fahrradklingel.
    Mimi hielt inne und lauschte. Als niemand nach ihr rief, um zu fragen, was sie da Eigenartiges tat, probierte sie es erneut mit einem kräftigen Ruck. Ein noch lauteres Knacken war die Folge. Splittriges Holz plumpste vor ihre Füße ins Gras. Das Fenster war offen. »Das hätten wir schon mal«, flüsterte sie begeistert und zog den zerborstenen Fensterrahmen auf. Die Scharniere quietschten. Und mit dem Quietschen setzte in den Bäumen ein fröhliches Gezwitscher der Amseln ein, als hätten sie nur auf ihren Einsatz gewartet. Vor dem Haus fuhr ein Wagen vorbei. Lunenburg erwachte langsam zum Leben. Jetzt hatte Mimi nur noch das Problem, dass sie niemals in das Fenster einsteigen konnte, wenn sie nicht irgendetwas hatte, worauf sie sich stellen konnte.
    Ein Stück die Straße hinunter entdeckte sie zwischen Sträuchern und Hecken zwei alte Backsteine, die sie unter dem aufgebrochenen Fenster hochkant übereinandersetzte. Die halsbrecherische Erhöhung reichte gerade so aus, um sich mit den Ellbogen auf dem Sims abzustützen und hochzuhieven.

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