Je länger, je lieber - Roman
in ihrem cremefarbenen Kleid umfassen und küssen würde. Wie er vor ihr niedersinken und weinen würde. Wie er betteln würde, ihm nie wieder solch einen Schrecken einzujagen.
Er stieß die Tür zum dunklen Zuhause auf und blieb auf der Schwelle stehen. Es war unerträglich still. Wenn er doch nur das Krabbeln der Ameisen gehört hätte! Wenn es doch nur ein Geräusch gegeben hätte, das die Stille vertrieben hätte. Sollte er laut vor sich hinreden, wie ein Irrer, der nicht merkte, dass er allein war? Sollte er in diese Stille hinein sagen: »Ich bin zurück!« Sollte er die Luft umschlingen und küssen, als hielte er Daria in den Armen? Sollte er der Dunkelheit im Kinderzimmer etwas vorlesen, als läge der Kopf seines Sohnes in seinem Schoß? Würde er hier für immer allein bleiben? Wie lebendig begraben unter all der Trauer? Was hatte er getan, dass seine Frau ihn verlassen musste? Warum nahm sie ihm alles, was er besaß? Für sie hatte er die Liebe seines Lebens aufgegeben, im Tausch gegen ein nicht zu brechendes Versprechen. War das nichts?
Er nahm all seinen Mut zusammen und wagte einen Schritt in die Küche hinein. Der Tisch, die Stühle, das Geschirr, alles hatte mit einem Schlag seine Bedeutung verloren. Von draußen warf die Dämmerung ihr bläuliches Licht durch die Terrassentür, gerade genug Helligkeit, um zu sehen, dass sich seit seinem Aufbruch am Morgen nichts verändert hatte. Niemand war während seiner Abwesenheit hier gewesen. Es war nur kälter geworden. Viel kälter.
Erschöpft stieg er die Treppe hinauf in den ersten Stock. Obwohl er es nicht wollte, entschlüpfte ihm doch ein kläglicher Ruf nach seiner Frau. »Daria? Bist du da?«
Es kam keine Antwort. Natürlich nicht. Und doch tat es so weh, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Er holte tief Luft und drückte die Klinke zu seinem Arbeitszimmer auf. Er musste Gewissheit haben, wollte er etwas Schlaf finden. Er musste sehen, ob seine Ahnung stimmte. Hatte Daria die unzähligen Briefe gefunden, die Clara ihm als Antwort auf seine unzähligen Briefe geschickt hatte? Ihre Liebe hatte nur aus Worten bestanden, Worte, die ihm die Welt bedeuteten, bis er merkte, dass er in die Wirklichkeit zurückkehren musste, zu seiner Frau und seinem Sohn, dorthin, wo nicht zählte, was er schrieb, sondern, was er tat. Vor fünf Jahren hatte er Clara den letzten Brief geschrieben. Seitdem versuchte er, nicht an sie zu denken. Sie nicht vor sich zu sehen. Nicht ihre Stimme zu hören. Nicht ihre Liebe zu sprüen. Und doch hatte er es nicht übers Herz gebracht, ihre Briefe zu verbrennen. Es wäre ihm wie Verrat an dem Mädchen aus Waldblütenhain vorgekommen. Obwohl er geahnt hatte, dass Daria eines Tages herausfinden würde, dass er stattdessen sie verraten hatte und dann genau das tun würde, was nun passiert war – ihn ohne Ankündigung zu verlassen.
Jacques schaltete das Licht an. Sein Arbeitszimmer war klein und unaufgeräumt. In einem Regal standen Aktenordner und Mappen, in einem anderen Gläser und Schachteln mit Verpackungsmustern und Etiketten. Auf dem Schreibtisch am Fenster türmten sich Briefe, Prospekte und eine Auswahl unterschiedlicher Korken. An der Wand dahinter hing das Hochzeitsgeschenk seines Schwiegervaters Emilio Casado, der, ohne es zu ahnen, aus allen seinen Gemälden gerade jenes ausgesucht hatte, das Jacques’ ganzes Schicksal auf schmerzhafteste Weise zusammenfasste. Zwei Freundinnen, die sich in der Meeresbrandung aalten, die Körper mit durchtränkten Tüchern umwickelt. Daria und Clara.
Für einen kurzen Augenblick blieb Jacques vor dem Bild stehen und vergaß all seinen Schmerz. Es war, als holte ihn das Gemälde für einen glückserfüllten Moment in die Zeit zurück, in der alles gut gewesen war; in der nichts darauf hingedeutet hatte, dass das Leben für sie alle zum Gefängnis werden würde. Seither suchten sie alle drei, jeder für sich, nach einem Ausweg. Acht lange Jahre! Doch jeder Ausweg, der sich zu bieten schien, führte nur noch tiefer ins Verderben. Sein Ausweg war es am Ende wohl gewesen, Claras Briefe so unzureichend zu verstecken, dass seine Frau sie eines Tages finden würde. Und Darias Ausweg war es gewesen zu gehen. Welchen Ausweg hatte Clara gewählt?
Jacques trat an den Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl. Über den spitzen Zypressen stand der Vollmond am Himmel und goss sein weißes Licht über die Tischplatte. Da lagen sie, wie erwartet. Claras gesammelte Briefe. Es war beinahe ein
Weitere Kostenlose Bücher