Je länger, je lieber - Roman
trug. Jeden Tag gab es viel zu tun, oft kam sie erst nach Mitternacht ins Bett. Und doch war sie dankbar, dass sie eine Aufgabe hatte und all die überflüssigen Zimmer endlich von fröhlichen Kinderstimmen erfüllt waren. Draußen im Garten lärmten ihre Schützlinge, und neben ihr, auf dem herangerückten Tischchen saß ihr Blondköpfchen Jakob und malte ein Bild von einem Fisch. Ihr Rehchen behielt sie immer dicht bei sich. Wenn sie Möhren schälte, Essen verteilte, Betten machte, Wäsche wusch oder der Medizinstudent Medler aus dem benachbarten Dorf herüberkam, um die neu angekommenen Kinder auf Krankheiten und Läuse zu untersuchen. Immer sollte der kleine Jakob bei ihr sein, niemals durfte ihm etwas passieren.
Schon ein paarmal war er hinunter zum Waldsee entwischt, um im Frühling Kaulquappen zu fangen oder am Ufer Walnussschiffchen fahren zu lassen. Ihr kleiner Draufgänger liebte das Wasser, und er würde jede Gelegenheit nutzen, um dorthin zu gelangen. Sie fühlte sich wohler, wenn er bei ihr saß und malte.
Clara war schon seit einigen Tagen nicht mehr dazu gekommen, Jacques zu schreiben. Vor fünf Jahren, einen Tag, nachdem ihr Mann Gustav eingezogen worden war, hatte sie wieder Kontakt zu ihm aufgenommen. Zuerst, um Jacques zu untersagen, ihr noch eine einzige seiner sehnsüchtigen Karten zu schreiben. Doch nachdem er sich über einen Monat daran gehalten hatte, hatte sie ihm noch einen Brief hinterhergeschickt. Zuerst in ganz sachlichem Tonfall. Was sie tat, über das Wetter, belanglosen Kram. Es hatte nicht lange gedauert, bis er ihr geantwortet hatte. Zuerst sachlich, dann immer gefühlvoller, bis sie ihre Liebe wieder beschworen. Sie konnten nicht anders. Sie wollten nicht anders. Und auch jetzt drängte es sie dazu, liebe Worte an ihn zu richten, um wieder Ruhe zu finden.
Nebenan in der Halle spielten ein paar der kleineren Kinder Fangen. Eilig schob Clara den Topf von der Kochstelle und hob ihren Sohn vom Tischchen. »Komm, mein Rehlein.« Sie trug ihn hinaus durch die Halle, in den Wintergarten, weiter in den herbstlichen Obstgarten hinaus, wo eine Gruppe von größeren Mädchen auf einer Pferdedecke unter den Apfelbäumen saß und Hagebutten entstielte. In den Zweigen über ihnen hockten die Jungs und ließen zerriebene Blättchen auf sie hinabrieseln. Claras Blick schweifte durch das gelbe Blätterwerk. Ihr Blick blieb für einen Augenblick an den Augen eines Kerlchens in Jakobs Alter hängen. Sie lächelte ihm zu. »Fall da bloß nicht runter!« Dann setzte sie ihr Rehlein dem ältesten Mädchen, das ihr beim Hüten der vielen Kinder half, auf den Schoß. »Margarete, pass auf ihn auf. Ich bin gleich zurück.« Sie küsste ihren Sohn auf die Wangen und die Stirn. »Ich bin gleich zurück. Bleib schön hier sitzen.«
Dem sommersprossigen Mädchen mit den rotblonden Zöpfen konnte sie vertrauen. Sie gab gut acht. Clara lief über die Wiese zurück zum Haus. Sie drehte sich ein letztes Mal zu ihrem Rehlein um. »Ich bin gleich zurück!«
Sie brauchte nur einen Moment für sich. Um durchzuatmen. Um Jacques zu schreiben. Im Wintergarten drängte sie sich zwischen den spielenden Knirpsen hindurch, weiter ins dunkle Klavierzimmer. Eilig schloss sie die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Hierhin floh sie gelegentlich für ein paar Minuten, wenn ihr Herz begann, aufgeregt zu schlagen, und sie Jacques nah sein wollte, um neue Kraft zu schöpfen.
Sie schaltete das Licht an. In Windeseile räumte sie den Kerzenständer und die Notenhefte vom Klavier und klappte es auf. Darin lag ein ganzer Stapel Briefe und Postkarten von Jacques, dem Mann, nach dem sie ihren Sohn benannt hatte und von dem sie nicht lassen konnte, wie sehr sie es auch immer wieder versucht hatte. Seit fast zwanzig Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen, doch die Sehnsucht nach ihm war noch immer dieselbe.
Sie hatte einen Mann, der fünf Jahre zuvor in den Krieg geholt worden war. Sie hatte einen Sohn, den sie niemals nach Jacques hätte benennen dürfen. Es war schlimm genug, dass sie all diese Karten und Briefe aufhob, die nichts anderes als ein Zeugnis einer niemals enden wollenden Liebe waren. Das Zeugnis eines Fluchs, mit dem Jacques und sie seit beinahe zwei Jahrzehnten belegt waren. Zuoberst lag die Karte, die sie vor fünf Jahren zum Wanken und schließlich zum Einknicken gebracht hatte.
Geliebte Goldblüte, ich kann Dich nicht vergessen. Hilf mir, Dich zu vergessen. Ich flehe Dich an! Sag mir nur eines: Wie geht
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