Je länger, je lieber - Roman
hängen und kratzten über ihre Wangen. Sie drängte sich durch die umstehenden Kinder. »Macht Platz! Macht auf der Stelle Platz.« Sie kämpfte sich ganz nach vorne, bis sie Margarete im morastigen Schlamm neben einem leblosen Bündel knien sah. »Jakob!«
Die Kleider ihres Sohns waren vom eisigen Seewasser durchtränkt. Die Haare klebten feucht am Kopf. Seine hellblauen Augen sahen sie überrascht an. Die Lippen waren lila und halb geöffnet. Clara drängte Margarete zur Seite. »Was ist mit ihm?«
Sie sank neben ihrem Blondköpfchen auf die Knie und riss diesen schlaffen Kinderkörper, der sie all die Tage und Nächte hindurch begleitet hatte, an ihre Brust. Sie schüttelte ihr zartes, geliebtes Rehlein, dessen Kopf kraftlos nach hinten fiel. Seine Ärmchen schlackerten wie nach Luft schnappende Fische an Land. »Verlass mich nicht, mein Kind!« Und doch wusste sie, dass ihr Sohn verschwunden war. In der Sekunde, in der sich sein Namensbruder dazu entschlossen hatte, die Augen wieder aufzuschlagen.
Sie hatte es gewusst, dass eines Tages diese eine gewaltige Kraft kommen und ihr Rehlein von ihr wegreißen und forttragen würde. Warum hatte sie ihn nur für einen Moment aus den Augen gelassen? Warum hatte sie ihn Margarete auf den Schoß gesetzt? Um Jacques zu schreiben, um ihren Sohn und ihren Mann zu verraten, der nicht heimkehrte. Sie allein trug die Schuld am Tod ihres Rehleins.
29
Lunenburg, 2013
»Hier muss es sein.« Mimi blieb vor einem schlichten, grauen Grabstein stehen und entzifferte die verwitterten, von Grünspan überwucherten Metallbuchstaben. »Daria Barreto.« Dann drehte sie sich zu Bruno um, der ein paar Schritte hinter ihr stehen geblieben war. »Sie war Jacques’ Frau. Er war verheiratet. Genau wie meine Großmutter. Und doch konnten sie scheinbar nicht voneinander lassen.«
Bruno zog die Augenbrauen hoch, als wollte er damit sagen: »Das Problem, sich nicht entscheiden zu können, haben auch noch andere verheiratete Leute.« Doch stattdessen bemerkte er: »Sieht aus, als wäre lange niemand mehr hier gewesen. Keine Blumen. Nichts. Vielleicht hätten wir welche mitbringen sollen?«
Mimi lächelte ihm zärtlich zu. »Ja, das hätten wir.« Wie umsichtig er war. Auf ihrem Spaziergang am Hafen entlang hatte sie Bruno von ihrer Begegnung mit Belle McCall erzählt, und anstatt darauf zu beharren, über den Status quo ihrer Freundschaft zu reden, hatte er vorgeschlagen, hier herauf zum Friedhof zu gehen, um nach Darias Grab zu suchen. Schweigend waren sie im Orange der untergehenden Sonne über die weite Rasenfläche geschlendert und hatten die verwaschenen Inschriften der grauen Steinplatten entziffert. Wie viele Schicksale hier lagen! Seemänner, die im Sturm ihr Leben gelassen hatten. Frauen, die unter der Geburt gestorben waren. Kleine Kinder, die von Krankheiten hinweggerafft wurden. All die Steine, die immer wieder die gleiche Geschichte des Abschieds erzählten. Mit jedem Menschen, der gestorben war, hatte ein anderer das Liebste auf der Welt verloren. Mimi kniete sich auf das frisch gemähte Gras und fuhr andächtig mit der Fingerspitze die Inschrift nach.
I WAS YOUR WIFE. LATELY COME TRUE.
1912 – 1992
Diese längst verstorbene Frau musste der Grund gewesen sein, warum Jacques ihrer Großmutter das Herz gebrochen hatte. Nun lag sie hier, tief unter der Erde, längst zu Staub zerfallen, während Clara noch immer mit ihrem Schicksal rang. Aber ihre Großmutter und vielleicht auch Jacques waren noch am Leben. So, wie sie und René am Leben waren. Sie alle hatten die Chance, wieder zueinanderzufinden, um die Zeit mit einander zu verbringen, die ihnen noch blieb. Oder sollten sie und Bruno zusammenfinden? Bis der Tod auch sie für immer voneinander trennte? Warum tauchte eigentlich immer eine neue Frage auf, sobald eine Antwort gefunden war?
»Anstatt mit immer anderen Mädchen auszugehen, hätte ich dich damals gleich fragen sollen, ob du meine Frau werden willst«, unterbrach Brunos brüchige Stimme plötzlich Mimis Gedanken.
»Was?« Sie warf ihm einen überraschten Blick über die Schulter zu. Für ihn schien es also keine Frage mehr zu sein, ob sie zusammengehörten. Er hatte die Antwort bereits gefunden. Offenbar schon vor langer Zeit. So schnell war sie nicht. In der rötlichen Abenddämmerung kniete er sich neben sie. Nervös zupfte er einzelne Grashalme ab, so, wie er es früher schon unter den Apfelbäumen getan hatte. »Stattdessen …« Er holte tief Luft und blickte
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