Je länger, je lieber - Roman
hinüber zum roten Schuldach, das zwischen den Ahornbäumen hindurchschimmerte. »Stattdessen werde ich morgen früh wieder zurückfliegen und so tun, als wäre ich nie hier gewesen.«
»Wie?« Mimi blickte ihn verwirrt von der Seite an. Wie war das denn nun wieder zu verstehen? Wollte er nun mit ihr zusammen sein oder nicht?
Bevor sie noch irgendetwas sagen konnte, stand er auf und ging zügig Richtung Ausgang. Erstaunt sah sie ihm nach.
»Bruno, was ist los?« Schon wieder eine Frage, die sie sich dieses Mal allerdings ganz leicht selbst beantworten konnte. Er tat, als ob er sie nicht gehört hätte. Zum Narren wollte er sich offenbar nicht halten lassen. Woher wusste er, was in ihr vorging? War ihre Unentschlossenheit so deutlich zu spüren? Er verhielt sich, als wäre bereits alles beschlossen und gesagt. Als wäre alles klar. Aber das war es doch gar nicht. Sie konnte nur gerade keine Entscheidung von solch einem Ausmaß treffen. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, aber gleichzeitig hatte sie René noch nicht losgelassen. War das denn nach zehnjähriger Ehe so verwunderlich? Trotzdem hatte Mimi das Gefühl, sich bei Bruno entschuldigen zu müssen. Sie hätte ihm neulich Nacht sagen müssen, dass sie die Trennung von René längst nicht überwunden hatte. Stattdessen hatte sie so getan, als wäre sie offen und ungebunden. Vielleicht hatte sie sogar gehofft, ihren Mann mit Brunos Hilfe sofort zu vergessen und ohne Wehmut in ein neues, aufregendes Leben hinübergleiten zu können. War ihr das zu verübeln? Sie hatte nicht vorgehabt, ihrem besten Freund wehzutun. Lief es denn immer darauf hinaus, dass Menschen einander suchten und am Ende doch einander verletzten? Konnte es denn nicht passieren, dass sie einander fanden, um sich glücklich zu machen?
»Warte!« Sie stand auf und lief hinter Bruno her. Sie sah seinen muskulösen Rücken durch den Stoff des T-Shirts. Überhaupt war alles an ihm anziehend, aber diese Anziehung war doch nichts gegen die Vertrautheit, die sie mit René verband.
»Was?« Nun blieb er doch stehen und sah Mimi entgegen, die nun langsam über die Wiese auf ihn zukam. Er sah müde aus. Der Schnürsenkel seines Turnschuhs war aufgegangen, wie bei dem Jungen, mit dem sie früher auf die Apfelbäume geklettert und im Wald eine Räuberhöhle aus Ästen und Zweigen gebaut hatte.
»Tu nicht so, als wärst du nie hier gewesen.« Mimi zögerte, ob sie es wirklich aussprechen sollte. »Es bedeutet mir sehr viel, dass du mich dieses Stück des Weges begleitest, auf dem sich mir viele Fragen stellen, auf die ich nicht so schnell eine Antwort finde. Aber vielleicht kann ich sie auch nicht alle allein finden. Vielleicht brauche ich einen guten Freund, der mir dabei hilft und mir sagt, ob ich richtig liege oder nicht. Ich bin gerade so durcheinander und …«
»Eine Frage kann ich dir in jedem Fall schon beantworten.« Bruno kam wieder näher heran und sah ihr tief in die Augen, sodass sie augenblicklich in ihnen versinken wollte. Konnte er sie nicht einfach in den Arm nehmen und noch etwas Geduld mit ihr haben, bis sie wusste, wohin sie gehörte? Oder lag genau in diesem Warten und Hoffen der Fluch? Wusste er etwas, das Clara und Jacques erst schmerzlich hatten erfahren müssen? Dass es sich nicht lohnte, auf jemand Unentschlossenen zu warten? Er war ihr doch nicht egal. Er war ihr bester Freund. Ihr Verbündeter. Derjenige, der in ihr noch immer die Abenteurerin sah. Er murmelte: »Du liebst ihn immer noch.«
Mimi schluckte. Ihr Blick ging zu Boden. Vermutlich stimmte es. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, um sich vor der nächsten Enttäuschung zu schützen … Sie atmete die salzige Luft ein und lauschte den zarten Geräuschen des Abends. »Ja«, flüsterte sie. »Ich liebe ihn noch immer, und ich kann mir momentan noch kein Leben ohne ihn vorstellen. Er ist mein Mann.«
Bruno nickte. »Ist es nicht seltsam, dass die Menschen, die wir bereit sind zu lieben, für uns nicht erreichbar sind? Ist das der große Witz, den sich das Leben mit uns erlaubt? Oder verlieben wir uns einfach nur in diejenigen, die wir nie bekommen werden?«
»Keine Ahnung.« Sie hoffte in jedem Fall, dass sie zu dem Mann würde zurückkehren können, den sie aus Liebe geheiratet hatte. Sie hatte doch damals das große Glück gefunden, nur leider viel zu schnell wieder verloren.
»Mach’s gut, Yamyam.« Bruno hob die Hand und wendete sich zum Gehen. »Ich wünsche dir in jedem Fall, dass du Jacques finden wirst.
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