Je länger, je lieber - Roman
erzählen Sie mir alles.«
Wer war dieses junge Mädchen, das ihm mutig hier hinaus in die nächtlichen Weinberge gefolgt war? Sie traute sich etwas. Das musste er zugeben. Er erhob sich und klopfte seine staubigen Hosenbeine ab. Dann ließ er zu, dass Yvette nach seiner Hand griff und ihn den Weg zum Haus hinunterführte, wo in der Küche noch immer Licht brannte. Als würde dort jemand auf ihn warten.
27
Lunenburg, 2013
Zurück im Hotelzimmer, warf Mimi als Erstes einen Blick auf ihr Handy. Es zeigte ihr drei verpasste Anrufe und zwei Nachrichten. Überraschenderweise hatte ihr Mann versucht, sie zu erreichen, aber keine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Was sollte das? Sie wollte sich nicht ständig fragen, was in ihm Rätselhaftes vorging. Warum sagte er nicht einfach, was er wollte? Sollte sie ihn zurückrufen? War das so was wie ein Spiel?
Doktor Felsenstein aus dem Krankenhaus hatte ebenfalls angerufen. Seine Stimme klang irgendwie aufgeregt. Er sei auf eine Entdeckung gestoßen, zu der er sie dringend befragen müsse, sagte er. Er habe die Hoffnung, sie mit Mimis Hilfe entschlüsseln zu können. Um was für eine Entdeckung konnte es sich da handeln? Hatte er einen Weg gefunden, Claras Herz zu heilen – ganz ohne Jacques?
Und dann war da noch eine Nachricht von Bruno: »Hast du Lust, mit mir bei Sonnenuntergang die Wale anzusehen?«
Mimi starrte auf das Telefon und hörte die Nachricht noch einmal ab, und dann noch einmal, als würde sie so hinter die kryptische Bedeutung seiner Worte kommen, die vielleicht gar nicht so kryptisch war. Die Wale ansehen. Das konnte doch nur heißen, dass Bruno auf dem Weg zu ihr war. Mimi ließ sich aufs Bett plumpsen. Warum wusste sie gerade gar nicht, ob sie das wollte?
Wenn er ihr schon auf dem Zwischenstopp in Montreal auf die Mailbox gesprochen hatte, dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er vor der Zimmertür stand. Hatte sie ihm gesagt, in welchem Hotel sie wohnte? Vermutlich. Sollte sie noch schnell duschen? Sich die Haare waschen? Plötzlich war sie so nervös wie ein junges Mädchen, das ihren neuen Freund zum ersten Mal zu Hause erwartete. Gleichzeitig kam ihr das Ganze seltsam verboten, aber irgendwie auch unpas send vor. Sie starrte auf ihr Telefon. Sie hätte gern gewusst, was René wollte. Sie musste Doktor Felsenstein anrufen, bevor er Feierabend machte. Sie wollte sich die Fotos ansehen, die sie aus der Kommode in Jacques Barettos Haus mitgenommen hatte und noch immer in ihrem Hosenbund steckten und deren Ecken unangenehm in ihren Rücken stachen. Es war noch so viel zu tun.
Bei Doktor Felsenstein hatte sie Pech. Er war schon seit einer halben Stunde weg. Also überwand sie sich und rief René an. Dieses Hin und Her fing an, sie zu zermürben. Noch nie in ihrem Leben war es so schwierig gewesen, ihren Mann zu erreichen. Das Tuten bohrte sich durch ihren Gehörgang. Endlich nahm René am anderen Ende ab. Mimi setzte sich kerzengerade auf und fixierte das Mädchen auf Finnleys Bild. Sie war bereit, sich den Tatsachen zu stellen. Sie war …
»Mimi, bist du das?« Renés Stimme klang gedämpft. So, als würde er eine Hand vor die Sprechmuschel halten.
»Störe ich dich?« Sie stand wieder vom Bett auf und stellte sich ans Fenster, in der Hoffnung, so diese flirrende Nervosität loszuwerden, die ihren gesamten Körper zum Vibrieren brachte. Am liebsten wäre sie auf der Stelle gejoggt.
»Überhaupt nicht! Ich bin froh, dass du anrufst.« Eine Tür klappte im Hintergrund. »Ich sitze immer noch in so einer zähen Konferenz, und die Leute werden sich wieder nicht einig. Das kann noch Stunden dauern. Jetzt bin ich aber auf die Toilette gegangen. Muss ja nicht jeder hören, was wir zu bereden haben.«
Mimi lachte bitter auf. Wie recht er hatte! Ob seine Geschäftspartner schon von seiner neuen Freundin wussten? Und seinem miesen Verhalten seiner Frau gegenüber?
»Ich muss nur aufpassen, dass mir das Telefon nicht wieder in die Kloschüssel fällt«, fuhr René fort und klang seltsam gut gelaunt.
»Bitte?« Mimi setzte sich zurück aufs Bett. Was redete er da?
»Als du letztes Mal angerufen hast, bin ich aus der Besprechung auch schnell auf die Toilette gelaufen. Ich war so aufgeregt, dass mir das blöde Telefon aus der Hand ins Wasser gefallen ist. Darum konnte ich dich nicht zurückrufen. Es tut mir leid. Ich … ich habe jetzt eine neues Handy.«
Mimi konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Verstehe. Wie geht es dir?«, fragte
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