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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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es Dir? Liebst Du mich noch immer, so, wie ich Dich liebe? Oder hasst Du mich? Ich bin allein und frage mich, wie Du nun aussiehst, nach all den Jahren? Was machen Deine blonden Locken? Dein Lächeln? Mein Haar wird an den Schläfen grau. Ich küsse Dich. Dein Jacques.
    Anstatt die Karten sofort zu zerreißen, hatte sie alle aufgehoben, um wieder und wieder seine Worte zu lesen. Dass er sie nicht vergessen konnte, gab ihr die Stärke weiterzumachen. Sie nahm das Briefpapier und ihren Füllfederhalter aus dem Klavier und setzte sich auf den Boden. Als Schreibunterlage nahm sie sich ein Notenheft. Dennoch: Das, was sie hier tat, durfte sie nicht tun! Das schlechte Gewissen plagte sie mit jedem Brief, den sie an ihn schickte. Aber wenn sie es nicht tat, würde sie niemals Ruhe finden. Endlich malte sie wieder, frühmorgens, bevor die Kinderschar erwachte. Auch wenn sie mit jedem Brief größeren Verrat an ihrem Sohn und ihrem arglosen Mann übte, der sie damals aus der Einsamkeit gerettet hatte, als er sich Hals über Kopf und auf den ersten Blick im Bäckerladen in sie verliebt hatte.
    Nun litt er in russischer Gefangenschaft und wartete im Ural auf seine Heimkehr. Um ihm Trost zu spenden, schrieb sie auch ihm Briefe, die Jakob ihr diktierte und inzwischen eigenhändig mit seinem Namen unterzeichnete. Dabei hatte Rehlein seinen Vater noch nie gesehen.
    Draußen klopfte es an die Tür. Sie hörte Margaretes aufgeregte Stimme. »Einer der Jungs ist beim Klettern vom Baum gefallen.«
    Rasch legte sie das Album zurück ins Instrument, wobei die Seiten leise zu klingen begannen. Dann strich sie sich die Locken zurück und öffnete die Tür. »Hat er sich etwas getan?«
    »Er ist mit dem Kopf auf einen Stein gefallen.« Das Mädchen hielt den kleinen, dunkel gelockten Jungen auf dem Arm, der aus einer Platzwunde an der Stirn blutete. Seine Augenlider flatterten wie gefangene Schmetterlinge. Eben noch hatte Clara ihm in den Zweigen zugelächelt.
    »In Ordnung. Schaff ihn hinüber in den Salon. Ich hole Verbandsmaterial.«
    Clara rannte in die Küche, riss die Schubladen der Anrichte auf. Aber es quollen nur Buntstifte, kleine Bastelarbeiten von Jakob heraus. Ein Blechauto, als wären darin Rehleins gesammelte Kostbarkeiten enthalten. Schließlich fand sie das, was sie suchte. Mit den Pflastern und Binden eilte sie zurück in den Salon, wo Margarete das wimmernde Kerlchen auf das rote Sofa gelegt hatte und ihm vorsichtig die Haare aus der blutenden Wunde zupfte.
    Clara massierte sich die eiskalten Hände. »Dann wollen wir mal.«
    Sie beugte sich hinunter zu dem schmächtigen Jungen. »Hallo, mein Kleiner. Hörst du mich?«
    Mit einem Mal war es, als wäre das Leben aus ihm entwichen. Sie nahm seine schlaffe Hand und fühlte seinen Puls. Da war kein Puls. Das dünne Ärmchen lag wie tot in ihrer Hand. Margarete stand von der Sofakante auf und machte Clara Platz, damit sie sich zu dem Jungen setzen konnte. Sie flüsterte. »Er heißt auch Jakob. Ich … ich muss wieder nach draußen.« Nervös knetete sie ihre Schürze. »Ich … ich habe Jakob bei den anderen Kindern gelassen. Ich wusste nicht…«
    Clara sah erschrocken von dem reglosen Patienten zu Margarete auf, die hektische rote Flecken im Gesicht bekommen hatte. »Lauf! Worauf wartest du noch? Lauf!«
    Das Mädchen drehte sich augenblicklich um, seine Zöpfe flogen. Clara schüttelte den Jungen. »Jakob! Hörst du mich? Wach auf!«
    Und dann schlug er die Augen auf. Diese tiefgrünen Augen. Clara wich erschrocken zurück. Es waren Jacques Augen. »Es wird alles wieder gut!«, flüsterte sie, beinahe mehr zu sich selbst. »Dir wird nichts passieren.« Zärtlich strich sie ihm über die wunderschöne, dunkle Lockenpracht. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es mit einem Mal totenstill war. Das Lärmen der Kinder war schlagartig verstummt. Nichts regte sich.
    Alarmiert stand sie auf. »Ich bin gleich wieder da.«
    Langsam ging sie durch die Halle, auf den Wintergarten zu, in dem kein Winzling mehr spielte. Sie ging in ihren Schnürschuhen hinaus in den kalten Garten, immer schneller durch das hohe ungemähte Gras. In den Bäumen saßen keine Kinder mehr. Sie lief am alten Gesindehaus vorbei, am Bachlauf entlang. Von Weitem sah sie ihre Schützlinge in einer Traube am Ufer des Waldsees stehen. Der Wind wehte ihr modrigen Schilfgeruch entgegen.
    Clara rannte los, unter den tief hängenden Ästen hindurch über den aufgeweichten Boden. Spitze Äste blieben in ihren lockigen Haaren

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