Je länger, je lieber - Roman
Aufgewühltheit nicht anmerken zu lassen, drehte er sich lächelnd zu ihr um. »Hey!«
»Hey, was für eine Überraschung!« Mehr fiel ihr gerade nicht ein. Sollte sie sagen: »Schön, dich zu sehen!« Es stimmte zwar, und doch wieder nicht. Er sah so gut aus, in seinem weißen T-Shirt, den abgetragenen Jeans und der gebräunten Haut. Und doch kam es ihr falsch vor, dass sie sich überhaupt im selben Zimmer aufhielten. War sie am Ende keinen Deut besser als René? Sonderlich schwer war es ihr nicht gefallen, sich Bruno neulich Nacht hinzugeben – obwohl sie ihren Mann liebte. Sie war genau wie René bereit gewesen, diese Tatsache zu vergessen. Erschreckend, wie leicht das ging. Umso grauenhafter und schamvoller war das plötzliche Erinnern.
Bruno wirkte unschlüssig, ob er sich ihr nähern sollte. »Ich hätte nicht herkommen sollen. Es tut mir leid. Ich dachte nur, vielleicht brauchst du etwas Gesellschaft bei deiner Reise in die Vergangenheit.« Er fuhr sich hilflos durch sein dichtes, dunkles Haar, das das tiefe Blau seiner Augen noch mehr betonte.
Mimi kam auf ihn zu und griff nach seinen Händen. Sie wollte nicht, dass er sich komisch fühlte. Er hatte es gut gemeint. Also sagte sie: »Danke, dass du gekommen bist.« Und irgendwie stimmte auch das. Sie war froh, dass er hier war. Ein vertrauter Freund, der sie am Sterbeort ihrer Eltern nicht allein lassen wollte. Was war daran falsch? Sollte sie René wirklich so schnell verzeihen, nur weil er Reue und plötzlich große Gefühle zeigte?
Buno räusperte sich und lächelte dann. »Du hast mir gefehlt. Es klingt verrückt, aber nach unserer Nacht am Waldsee habe ich ununterbrochen an dich denken müssen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, wir hätten schon so viel Zeit verloren. Und ich will nicht noch mehr Zeit verlieren.«
Mimi nickte abwesend. »Ja.« Das war jetzt doch alles ein bisschen viel auf einmal. Sie brauchte dringend ein paar Minuten nur für sich, um Zeit zu gewinnen, um sich darüber klar zu werden, was sie fühlte und für wen. Sie murmelte: »Macht es dir was aus, kurz auf mich zu warten? Dann treffen wir uns unten vor der Tür und gehen runter zum Wasser?«
»Okay.« Bruno sah sie traurig an. »Klar.«
»Danke.« Mimi spürte seine Enttäuschung, und es tat ihr leid, dass sie ihn wegschickte. Eben noch hatte sie sich gefreut, als René ihr gestanden hatte, dass er sie vermisste. Nun spürte sie schon wieder dieses Verlangen, von Bruno geliebt zu werden. Seine Hände glitten sanft über ihre Unterarme, als er sie für einen Augenblick an sich zog und in ihr Ohr flüsterte: »Ich warte unten auf dich.«
Dann ließ er sie los und verschwand aus der Tür. Beinahe hätte Mimi ihn zurückgeholt, um seinen Körper dicht an ihrem zu spüren. Aber sie wollte vernünftig sein. Was sie jetzt als Nächstes tat, würde vielleicht ihr Leben verändern. Da sollte sie wirklich wissen, was sie wollte. Soweit das in dieser Situation überhaupt möglich war.
28
Waldblütenhain, 1945
Das Haus war voller Kinder. Aus allen Himmelsrichtungen schienen sie gekommen zu sein. Heimatlos. Hungrig. Halb verdurstet und zerlumpt. Als hätte ihnen jemand geflüstert, dass sie hier bei Clara all das bekommen würden, wonach sie suchten. Unterschlupf, Trost und wärmende Geborgenheit. Als hätte irgendeine unsichtbare Hand sie sicher durch das zerborstene Land, durch die Trümmer, das Leid und schließlich durch den Wald bis nach Waldblütenhain geführt. Und Clara ließ sie alle ein.
In den oberen Zimmern lagen Matratzen, Sessel- und Sofapolster dicht nebeneinander. Sogar auf dem Dachboden schliefen die Flüchtlingskinder auf Wolldecken. Nur unten in der Halle nicht. Und auch nicht im Salon, dem einzigen Raum, den Clara für sich und ihren vierjährigen Sohn Jakob beanspruchte. Die überflüssigen Möbel, wie Beistelltischchen, Anrichten und Nachtschränkchen hatte sie mithilfe der größeren Kinder in den Keller geschleppt, um Platz zu schaffen für noch mehr Matratzen.
Der erste Winter nach dem Krieg stand ins Haus. Draußen wurde es kälter, die Bäume verloren ihre Blätter, die Tage wurden kürzer. Clara stand in der Küche am Herd und rührte in einem Kessel voll wässriger Kartoffelsuppe. Die Strapazen der letzten Jahre zeichneten sich in ihrem Gesicht ab. Wenn sie am großen Spiegel in der Halle vorbeieilte, hatte ihr Spiegelbild kaum noch Ähnlichkeit mit dem unerschütterlichen Mädchen, das sie einst gewesen war. Auch wenn sie weiter stoisch Hosenanzüge
Weitere Kostenlose Bücher