Je länger, je lieber - Roman
deutlicher wurde das Bild, das sie in ihren Block übertrug.
Sie hörte Jakob rufen: »Mama, wir sind fast fertig!«
Ohne zu ihm aufzusehen, rief sie zurück: »Ich komme gleich.« Dabei wusste sie, dass sie jetzt unmöglich aufhören konnte. Wenn sie jetzt aufstand und ihr Zeichnen unterbrach, würde das Bild für immer verschwunden sein, fortgetragen von den Wellen, vom Wind, von der Sonne ausgeblichen. Dort drüben! Sie hörte das Lachen der beiden gleichaltrigen Jungs. Der eine blond, der andere dunkel gelockt. Dort unten sprangen sie wie kleine Delfine in die Brandung hinein. Wenn sie nur nicht zu weit rausschwammen, die Ebbe hatte längst eingesetzt! Am liebsten hätte sie laut gerufen: »Bleibt dicht am Strand!«
Doch ihr Rufen würde die Kinder in Luft auflösen. Während sie zeichnete, fühlte sie wahrhaftig, wie das kalte Salzwasser auch über ihren Körper hinwegschwappte und sich langsam wieder zurückzog, bevor es erneut zurückkehrte und sich wieder über ihren Körper ergoss. Clara wusste noch genau, wie es sich anfühlte, als Kind in den Wellen zu spielen und sich vom Wasser herumwirbeln zu lassen.
»Mama!« Jakob winkte ihr mit seiner gelben Schaufel zu.
»Ja, mein Schatz! Gleich!« Sie kniff die Augen zusammen.
»Mama!«
Clara seufzte. »Ich komme gleich! Ich bin noch nicht fertig!«
»Aber wir sind fertig mit unserer Burganlage!«, rief Gustav. Er verstand es nicht. Er verstand ihr Zeichnen und Malen nicht. Er verstand nicht, dass es eine Frage von Stille und Konzentration war. Er verstand nicht, dass die Bilder aus dem Nichts zu ihr kamen und in dem Augenblick festgehalten werden mussten, in dem sie sich zeigten. Und dass sie auf ewig verschwanden, wenn Clara sie nicht augenblicklich festhielt. Er war eben ein Ingenieur. Einer, der irgendwelche Dinge errechnete. Sie verstand genauso wenig, was er tat, wie er verstand, was sie tat. Nur dass sie es furchtbar langweilig fand, was er tat. Er schaffte es wenigstens, sich für ihre Zeichnungen zu begeistern, auch wenn seine Reaktionen darauf eher seltsam wahren. Er sagte Sätze wie: »Sieht spannend aus!« Oder: »Wie du das nur so naturgetreu hinbekommen kannst.« Er hob das Selbstverständliche hervor. Das war Handwerk. Das Besondere an ihren Bildern war, dass sie Dinge zeichnete, die nicht da waren. Aber das fiel ihm gar nicht auf. Wenn langweilige Kollegen von ihm zum Abendessen kamen, sagte er: »Meine Frau hat Fantasie.« Dabei lachte er und legte den Arm um sie. Sie musste von ihm lernen, großzügig zu sein. Trotz allem war er ein guter Mann, ein guter Vater. Treu und fürsorglich. Es musste einen Grund haben, warum sie sich damals beim Bäcker begegnet waren, als er sich fürs Wochenende Brot besorgt hatte und er sie, trotz ihres erbärmlichen Zustands, draußen am Fahrrad noch nach ihrer Adresse gefragt hatte. Sie hätte sie ihm ja nicht geben müssen. Doch sie hatte es in ihrer Niedergeschlagenheit für ein Zeichen gehalten, dass sich ein höflicher Mann im gut sitzenden Anzug für sie interessierte. Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie ganz naiv gehofft, dass sie sich in ihn verlieben könnte und er sie von ihrem Verlangen nach Jacques befreien würde.
Wenn sie ihn nur ließ. Sie musste ihn lassen.
Sie hob wieder den Blick und lächelte Gustav kurz zu. Dann schwenkte ihr Blick wieder hinüber zu den beiden badenden Jungen. Wenn sie nicht achtgab, wurden sie von der Ebbe weit hinaus ins offene Meer gerissen, bevor sie mit ihrer Skizze fertig war. Sie ließ ihren Bleistift über das Papier fliegen. Nur noch ein paar Striche. Im Augenwinkel sah sie, wie ihr Mann und Jakob sich erhoben, aufstanden, sich die nackten Beine abklopften und im weißen, nachgiebigen Sand zu ihr heraufkamen.
»Wartet, ich komme gleich zu euch!« Sie wollte nicht, dass die beiden sahen, was sie zeichnete. Wie sollte sie das erklären?
Es half nichts. Sie kamen immer näher und versperrten ihr die Sicht auf das, was sie zeichnete. Auf das, was nur ihre Augen sehen konnten.
»Was zeichnest du denn da Spannendes?«, rief Gustav.
»Nichts Besonderes. Nur …« Mehr wusste Clara nicht auf diese Frage zu sagen. Gustav und Jakob waren fast bei ihr. Sollte sie den Block schnell zuklappen, in der Hoffnung, dass sie den Rest aus der Erinnerung würde skizzieren können? Wenn sie jetzt das Zeichnen unterbrach, auch nur, um die Hand zu heben und die beiden zu bitten, kurz zu warten, wäre der Fluss unterbrochen. Also ließ sie es darauf ankommen.
Clara sah
Weitere Kostenlose Bücher