Je länger, je lieber - Roman
beleidigen. Also entschied sich Mimi, das Gespräch abzukürzen.
»In Ordnung«, unterbrach sie ihn. Ihr Name wurde nun schon zum zweiten Mal über Lautsprecher ausgerufen. Sie musste los. »Vergessen Sie es einfach. Es wäre schön gewesen, wenn Sie mir hätten helfen wollen. Wenn nicht, ist das auch in Ordnung. Dann wende ich mich eben an jemand anderen.«
»An wen denn?«, lachte er, als hätte sie einen Witz gemacht. »Es gibt niemanden, der sich besser mit Casados Werk auskennt.« Jetzt wurde seine Stimme doch etwas milder. »Es ist ja nur so, meine Dame, dass das Motiv vollkommen untypisch für Emilio Casado ist, verstehen Sie? Ich habe einfach Bedenken und keine Lust, meine Zeit zu vergeuden. Was meinen Sie, was für seltsame Anrufe ich hier tagtäglich bekomme?! Von Leuten, die den großen Meister stümperhaft kopieren und sich für seine Wiedergeburt halten.«
Mimi rannte Richtung Gate, wobei sie Reisenden mit ihren Rollkoffern geschickt auswich. Glücklicherweise hatte sie ihren Rollkoffer schon aufgegeben. Sie keuchte: »Okay, verstehe. Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen ein Foto mit besagtem Gemälde per Mail schicke. Sie sehen es sich an, und sollten Sie das Kunstwerk wider Erwarten kennen und wissen, wo es sich momentan befindet oder wem es gehört, melden Sie sich bei mir.«
Am anderen Ende der Leitung war es plötzlich still. Dann hörte Mimi ein Räuspern. »Abgemacht!«
Antoni Fuchs legte auf, und Mimi drängelte sich an der Sicherheitskontrolle vor. Ging doch. Stück für Stück kam sie voran. Stück für Stück. Man durfte sich nur nicht einschüchtern lassen. Eine ganz wichtige Lebenserkenntnis. Mimi lief als Letzte die Gangway hinunter. Als sie in den Flieger sprang, erntete sie die verärgerten Blicke der Stewardessen.
»Entschuldigung!« Verkrampft lächelnd kämpfte sie sich mit ihrem Handgepäck durch den Gang, bis sie sich ganz hinten auf den letzten freien Sitzplatz fallen ließ. Kurz darauf setzte sich der Flieger ruckend in Bewegung. Sie verstaute ihr Handgepäck unter dem Vordersitz und ließ den Sicherheitsgurt einrasten. Der massige Mann neben ihr schlief bereits. Er hatte die kräftigen Arme vor der gewaltigen Brust verschränkt, den Kopf in den wulstigen Nacken gelegt. Und er gab ein beängstigendes Röcheln von sich. Das einzige Problem war, dass Teile seines Köpers sich über Mimis Armlehne ergossen. Nun ja. Es lagen ja nur knapp acht Stunden Flugzeit vor ihr. Eilig bettete sie das Foto mit ihren Eltern und Jacques auf ihre Knie, um es mit dem Handy zu fotografieren. Anschließend mailte sie das Bild an Antoni Fuchs, obwohl längst die Aufforderung der Stewardessen erfolgt war, sämtliche technische Geräte auszuschalten. Es war wirklich nicht Mimis Art, sich gegen Regeln und Gesetze aufzulehnen. Nur jetzt gerade ging es nicht anders.
Endlich war das versprochene Foto abgeschickt, und Mimi schaltete ihr Telefon aus. Sie hätte nur noch gern gewusst, wer diese Charlotte Champlain eigentlich war? Warum sie von Jacques das Haus geerbt hatte. War sie eine Verwandte? Belle McCall, die Mimi gestern noch einmal angerufen hatte, um sich für ihre Hilfe zu bedanken, hatte ihr diese Frage nicht beantworten können.
Bald nach dem Start breitete sich hinter den kleinen Fenstern der hellblaue Himmel über einer weißen, geschlossenen Wolkendecke aus, auf der die Sonnenstrahlen reflektierten. Da draußen herrschte endlose Weite. Eine Weite, die sich kühl und zart um den silbernen Flieger legte, und Mimi wurde langsam ruhig. In den nächsten Stunden ihrer Rückreise war sie losgelöst von allem. Von der Vergangenheit, von der Zukunft, von dem, wer und was sie war. Es gab also nichts zu tun, als die Augen zu schließen und sich den langen Weg um den halben Globus in die Heimat bringen zu lassen.
Gleich nach der Landung würde sie auf direktem Weg nach Hause fahren. In ihr Zuhause, in dem sie bis vor Kurzem mit René gelebt hatte. Sie wollte zu ihrem Mann und alle Missverständnisse, Komplikationen und Verletzungen aus der Welt schaffen und vergessen. Sie wollte mit René noch einmal ganz neu anfangen und all das nachholen, was sie in ihrer Ehe versäumt hatten: sich wirklich füreinander zu interessieren.
Mimi war eine der Ersten, die nach der Landung um kurz nach Mitternacht übernächtigt und dehydriert am Gepäckband stand und mit dröhnendem Schädel auf ihren Koffer wartete. Der ungeplant endlos lange Zwischenstopp in Amsterdam hatte ihr den Rest gegeben. Bis ihre Siebensachen
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