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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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hinunter aufs Blatt, und ihre Hand gehorchte so wunderbar. Sie tat genau das, was sie tun sollte. Sie hatte geschafft, ihre beiden Jungs einzufangen.
    Jakob ließ sich keuchend neben sie in die Dünengräser fallen. Er klammerte sich an sie und küsste ihren Oberarm. Clara klappte ihren Block zu. »Jetzt bin ich fertig. Jetzt komme ich und sehe mir euer großartiges Bauwerk an.«
    Ihr Mann setzte sich auf der anderen Seite dicht neben sie. Die sonnengeröteten Arme auf die angezogenen Knie gelegt. Er blinzelte ihr zu. »Willst du uns nicht zeigen, was du gezeichnet hast?« Er lächelte. In seiner Stimme klang die ihm typische Unsicherheit mit. Diese Unsicherheit, die sich aus seinem Gefühl speiste, dass etwas Grundsätzliches nicht stimmte, und diese ihm innewohnende Tapferkeit mobilisierte. Dabei hätte er es nach dem Krieg und der Gefangenschaft verdient, sich wenigstens in seinem Zuhause, in Claras Gegenwart sicher zu fühlen. Er war ein guter Mann. Ein aufrechter und großzügiger Mann. Ein Mann, der vielleicht nichts vom Zeichnen verstand, dafür aber etwas von den Menschen. Seine Sinne waren klar. Und doch, so sehr er auch suchte, fand er keine Antwort auf seine unterschwelligen Befürchtungen.
    Clara strich ihm sanft über den geröteten Arm. Sie hätte in befreien können aus diesem Labyrinth, das sie für ihn errichtet hatte, damit er nie zur Wahrheit vordrang. Doch dann würde alles zusammenbrechen. Die erste Lüge hatte bereits die nächste Lüge geboren. Sie schlug den Block wieder auf und hielt das Blatt so, dass die Sonne genau darauf fiel, sodass das Weiß blendete und ihre Striche kaum zu erkennen waren.
    Jakob rutschte noch näher heran und zog sich auf die Knie. Er hielt den Deckel des Blocks hoch, sodass er einen Schatten warf, der die Bleistiftstriche auf dem Papier sichtbar machte. Es war sinnlos zu hoffen, dass die beiden nicht erkannten, was sie da gezeichnet hatte. Sie war eine geübte Zeichnerin. Es war sinnlos.
    Gustav beugte sich über das Blatt. »Ich … ich habe die beiden gar nicht bemerkt …« Er hob den Blick. »Wo sind sie hin?«
    »Sie …« Clara räusperte sich. »Sie sind nach Hause gegangen.« Sollte sie ihm noch einmal erklären, dass sie Dinge und Menschen sah, die nicht da waren?
    »So schnell?« Gustav sah den Strand zu beiden Seiten hinunter. Außer ihnen war niemand da. Der Strand war vollkommen leer. »Jakob, hast du die beiden gesehen, die Mama gezeichnet hat? Sie hätten uns helfen können, die Sandburg zu bauen.«
    Ihr Sohn schüttelte den Kopf, sodass seine dunklen Locken tanzten und Sand aufs Blatt rieselte. »Ich hab sie auch nicht gesehen. Ich glaub, die waren gar nicht da.«
    Clara lächelte. Ihr Sohn war so klug. Er legte den Kopf schief und fuhr vorsichtig mit der Fingerspitze über das Zeichenblatt. »Guck mal, Vati. Aber dieser Junge sieht aus wie ich.« Zu Clara gewandt: »Bin ich das, Mama?«
    »Vielleicht.« Sie zuckte vielsagend mit den Schultern. Mehr musste sie auch nicht sagen. Es war mit einem Mal still. Totenstill. Der Wind fuhr geräuschlos durch ihre Haare, über ihre Gesichter. Das Meer brandete geräuschlos. Die Möwen kreischten geräuschlos. Der Körper neben ihr, der sich gerade noch weich an sie geschmiegt hatte, wurde steif und hart. All seine Muskeln waren angespannt. Langsam drang sein gepresster Atem zu ihr durch. Ihr Sohn hatte verstanden. Er hatte den anderen Jungen, mit dem er in der Brandung spielte, erkannt.

33

    Unterwegs, 2013
    Im strömenden Regen rollte Mimi die nächtliche Auffahrt mit den Rhododendren hinauf, deren glänzende Blätter sich in den niederprasselnden Tropfen schüttelten. Hinter den Fenstern ihres Zuhauses brannte kein Licht, nur die Vorgartenlaterne und die Lampe über dem Eingang hatte René angeschaltet. Sein Wagen stand nicht wie sonst in der Garage, sondern schräg davor, als wäre er schon während der Fahrt ausgestiegen und einfach weggegangen. Mimi quetschte ihren Kombi in die Lücke zwischen seinem Auto und den Büschen, stieg aus und hielt sich ihre Handtasche zum Schutz gegen den Regen über den Kopf. Es dauerte Ewigkeiten, bis sie unter dem Vordach ihren Schlüssel in der Handtasche gefunden hatte. Endlich bekam sie ihn zu fassen und schloss leise die Tür auf. Zögernd trat sie ins dunkle Haus ein. War es überhaupt eine gute Idee, unangekündigt, mitten in der Nacht hier aufzutauchen? Vielleicht hätten sie sich morgen früh besser an einem neutralen Ort wie einer Parkbank treffen sollen.
    Die

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