Je länger, je lieber - Roman
auf das Gepäckband geplumpst kamen, stellte sie ihr Telefon an. Und sofort klingelte es. »Hallo?«
Es war der Kurator Antoni Fuchs. Und er legte sofort los. Er klang ziemlich verärgert. »Wieso schalten Sie ihr Telefon stundenlang aus, wenn Sie eine dringende Nachricht von mir erwarten? War sie doch nicht so dringend?! Es ist mitten in der Nacht, und ich habe morgen einen langen Tag vor mir.«
»Entschuldigen Sie, ich …«
»Ich will Ihre Entschuldigung gar nicht hören. Machen wir es kurz, damit ich ins Bett komme: Das Gemälde ist kein Casado. Ich habe das von Ihnen gemailte Foto zur Absicherung meiner Expertise auch noch an einen Kollegen gemailt, der ebenfalls weder dieses Bild noch etwas Vergleichbares von Emilio Casado kennt. Dennoch möchte ich Sie nicht vollkommen entmutigen.«
Antoni redete ohne Punkt und Komma weiter. Mimi konnte ihn nur bruchstückhaft verstehen, denn schon wieder kamen diese viel zu lauten, scheppernden Durchsagen aus den Lautsprechern. Schnell hielt sie sich das andere Ohr zu, während ihr Koffer rumpelnd auf dem Rollband an ihr vorbeizog. »Bitte? Was haben Sie gesagt?«
»Ich meinte, dass ich Sie nicht vollkommen entmutigen will. Ich bin nun auch interessiert, um was für ein Gemälde es sich hier handelt. Meinen Sie, Sie könnten diese Fotografie von Ihrer Großmutter auch noch ausfindig machen? Vielleicht ist darauf etwas mehr von dem Gemälde zu erkennen.«
»Ja.« Mimi nickte, ohne dass Antoni es sehen konnte. »Ja, das kann ich zumindest versuchen. Sobald ich es gefunden habe, werde ich es Ihnen zukommen lassen.«
»Was heißt: zukommen lassen?«, schimpfte der Kurator. »Ist Ihnen die Sache wichtig oder nicht? Wo sind Sie überhaupt? Was sind das für Stimmen im Hintergrund?«
»Ich bin auf dem Flughafen und ja: Mir ist die Sache wichtig!« Dieser empfindliche Sachverständige war wirklich schnell auf die Palme zu bringen. Und doch war er der Einzige, der ihr womöglich helfen konnte. »Sogar sehr wichtig. Und ich danke Ihnen für Ihre Mühe.«
»Dann kommen Sie mit dem Foto nach Barcelona.« Antoni legte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf. Und Mimi lief hinter ihrem Koffer her, um ihn vom Band zu wuchten. Sollte sie René vorher noch einmal anrufen? Oder einfach nach Hause kommen, so, wie sie bisher immer nach Hause gekommen war. Ganz selbstverständlich. Bevor sie morgen schon wieder aufbrach, um nach Barcelona zu fliegen, um Antoni Fuchs zu beweisen, dass es sich hier tatsächlich um einen Casado handelte. Nichts hatte sich geändert, sie flog noch immer kreuz und quer in der Weltgeschichte herum. Nur die Gründe hatten sich geändert: aus beruflichen waren private geworden.
Na gut! Dann buchte sie sich eben noch einen Flug nach Spanien. Sie hatte diese Suche begonnen und würde sie auch zu Ende bringen. Nur jetzt wollte sie erst einmal in ihr Bett. Zu ihrem Mann.
32
An der See, 1950
Sie waren eine richtige Familie. Vater. Mutter. Kind. Unter dem mit wattigen Wolkenschlieren überzogenen hellen Himmel errichtete Gustav mit Jakob eine Sandburg, die sie mit gesammelten Muscheln besetzten, wobei Gustav immer wieder seinen Kopf so weit absenkte, dass Clara seine kreisrunde Glatze sah, die sich langsam in der Sonne rötete. Seine helle Haut musste dringend eingecremt werden, wollte er sie sich nicht gänzlich verbrennen. Aber Gustav war alt genug, selbst darauf zu achten. Oder nicht? Jetzt hob er seinen Kopf und winkte Clara zu: »Hallihallo, mein Schatz!« Was für ein liebes Gesicht er hatte. Viel zu verletzlich für ihren Geschmack. Und doch drückte es in ihrer Gegenwart immer den Willen zur Tapferkeit aus. Nur Jakob gegenüber wurde sein Gesichtsausdruck ganz weich. Ob Gustav je die Unähnlichkeit zwischen seinem Sohn und ihm aufgefallen war? Gesagt hatte er nichts. Stattdessen hatte er den Wunsch geäußert, noch ein Kind zu bekommen, um die Familie mit einem Töchterchen komplett zu machen. So redete er. Familie komplett machen.
Clara saß ein Stück erhöht in den Dünen. Sie wollte für sich sein und ihren eigenen Bildern nachgehen. Das silbrige Gras rieb flüsternd seine Halme aneinander. Auf ihren Knien flatterte ihr Zeichenblock, auf den sie mit schnellen Strichen zügig eine Szene skizzierte. Immer wieder hob sie ihren Blick. Er streifte ihren Sohn in roter Badehose und ihren Mann im kurzärmeligen Hemd und hochgekrempelter Hose und glitt dann hinunter zur Brandung. Sie verengte die Augen, sie sah genau hin. Und je genauer sie hinsah, desto
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