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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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hatte, würde sie ihren Neuanfang regeln. Eigene Wohnung, eigene Töpfe und Pfannen, eigenes Bett und eigene Handtücher. Bis dahin wollte sie über diesen Albtraum nicht nachdenken. Sie wollte sich auf das konzentrieren, was jetzt zu tun war. Das Album finden, ins Krankenhaus fahren und anschließend zum Flughafen.
    Sie trat hinaus in den Flur und ging dann die Treppe hinunter. Ihr blieb noch ein wenig Zeit, bevor Margarete aus dem Gesindehaus herüberkam und anfing, neugierige Fragen zu stellen, wonach Mimi schon wieder in den Schubladen suchte. Im dämmrigen Salon stand das verwaiste Pflegebett ihrer Großmutter. Die warme Luft stand zwischen den schweren Möbeln. Hier mussten dringend mal die Fenster geöffnet werden.
    Sie schob die Vorhänge beiseite, öffnete einen Fensterflügel und ließ etwas frische Luft herein. Dann blickte sie sich um. Minuten nachdem sie von der Katastrophe erfahren hatten, war Clara mit dem Album aus dem Salon verschwunden. Sie war nicht lange fort gewesen. Höchstens drei, vier Minuten. Mimi trat hinaus in die Halle und ließ ihren Blick über den großen Spiegel und das Gemälde mit dem Engel schweifen. Als könnte sie auf diese Weise das Vergangene noch einmal heraufbeschwören. Und plötzlich war sie sich sicher, dass Clara ins Klavierzimmer hinübergegangen war. Mimi drückte die Klinke herunter. Durch das Fenster warfen die Apfelbäume verwaschene Lichtreflexe in den schmalen Raum. Erst vor ein paar Tagen hatte sie hier nach den Tagebüchern gesucht und nichts gefunden. Hatte sie wirklich überall nachgesehen?
    Damals hatte sie hohe Klaviertöne gehört, als würde ein Kind mit den Fingern über die Tasten fahren. Dann hatte es einen dumpfen Schlag gegeben. Und Clara war wieder im Salon erschienen. Sie hatte gelächelt, wie jemand, der etwas zu verbergen versuchte, aber bereits ahnte, dass man ihm irgendwann auf die Schliche kommen würde.
    Langsam trat Mimi ans Klavier. Ihr Herz pochte. Sie wusste, dass das Album hier drinnen, im Klangkörper verborgen lag. Hätte sie sich nach der Katastrophe oder vor ein paa r Tagen noch einmal ans Klavier gesetzt, hätte sie womöglich bemerkt, dass die hohen Töne seltsam dumpf klangen. Doch nach dem Tod ihrer Eltern war ihr nicht mehr nach Spielen zumute gewesen. Mimi hob den Deckel an und sah hinein. Da lag das rote Al bum auf der Klangmechanik! Sie streckte ihren Arm aus und zog es hervor.
    Oben im Jugendzimmer setzte sie sich auf die Dielen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. So, wie sie es früher als Teenager gemacht hatte, wenn sie heimlich Zigaretten drehten. Sollte Margarete heraufkommen, würde sie Mimi nicht gleich mit dem Album erwischen. Garantiert würde es ihr nicht gefallen, dass Mimi darin herumblätterte. Aus irgendeinem Grund musste Clara es ja in dem Klavier versteckt haben. Nur: warum?
    Mimi lauschte. Es waren keine schwerfälligen Schritte auf der Treppe zu hören. Schließlich öffnete sie das Album. Es duftete nach ihrer Großmutter. Nach Honig und Milch. Es duftete nach Vergangenheit. Es duftete nach dem Tag, an dem sie es sich zum letzten Mal angesehen hatten. Es erinnerte an die Nachricht des Todes.
    Das Seidenpapier flog knisternd im Luftzug zur Seite. Das erste Bild zeigte Clara als etwa Vierzehnjährige beim Malen vor einer Staffelei in einem Atelier. Vermutlich dem von Emilio Casado. Mimi blätterte weiter, und es war, als hörte sie die Stimme ihrer Großmutter, die ihr aus längst vergangenen Zeiten unter der Sonne Spa niens erzählte. »Ich, auf einem Eselskarren zwischen Agaven und Kakteen. Ich, schwimmend im kristallklaren Meer. Ich, vor einem kunstvoll geschnitzten Vogelbauer, in dem Kanarienvögel flatterten.« Auf der vorletzten Seite klebte das Foto, nachdem Mimi gesucht hatte. Emilio Casado neben Clara – einem grinsenden Teenager im Matrosenanzug und blonden, wilden Locken. Im Hintergrund das Gemälde von den beiden Mädchen am Strand! Vorsichtig löste Mimi das Bild aus den Fotoecken. Dann holte sie das Lunenburg-Foto aus ihrer Handtasche und legte es zum Vergleich daneben. Es war erstaunlich! Hinter Jacques und ihren Eltern aalten sich dieselben Mädchen in der Brandung. Sie hatte sich richtig erinnert. Und sie erinnerte sich auch, wie Clara damals gesagt hatte: »Die beiden Mädchen sind meine beste Freundin und ich gewesen.«
    Warum nur hatte sie damals das Album versteckt? Welches Geheimnis enthielt es, das niemand wissen durfte? Mimi legte es unter die Wäsche in ihrem Koffer. Sie

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