Je länger, je lieber - Roman
Versprochen.«
35
Arles, 1970
Jacques klappte den Deckel des letzten Umzugskartons zu, in dem sich eine Sammlung geschnitzte Ziegen befand, und stellte ihn zu den anderen Kartons, die er neben der Tür zur Speisekammer übereinandergestapelt hatte. Viel besaß er nicht. Nur ein bisschen Geschirr, Bücher, Schallplatten und die Ziegenherde, die er im Lauf der letzten Jahre für Pedro aus grauem Treibholz geschnitzt hatte, das er sich Winter für Winter aus Cadaqués mitbrachte, wenn er dort gemeinsam mit Emilio Weihnachten feierte. Auf diese Weise klammerte er sich noch immer an die wahnwitzige Hoffnung, sein neunjähriger Sohn würde irgendwann zu ihm zurückkehren. Auf diesen Tag wollte er vorbereitet sein.
Dabei waren Daria und Pedro seit über dreißig Jahren wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hatte Jac ques bei der Aufklärung ihres Verschwindens helfen können. Niemand hatte etwas gesehen. Niemand brach sein Schweigen. Seine Nachforschungen hatten nichts ergeben. Ebenso war Emilio mit seinem angeheuerten Detektiv nicht weitergekommen. Und auch die Sehnsucht hatte Daria und Pedro nicht nach Hause zu ihm zurückgetrieben. Kein Lebenszeichen. Nichts.
Er lehnte sich gegen die Anrichte und blickte in die leer geräumte Küche hinein, in der nur noch der Tisch und die vier Stühle standen. Hierher waren sie damals zu dritt gekommen, um fern von Cadaqués ein neues Leben zu beginnen, um sich ein Zuhause zu schaffen, in dem es keine Schatten der Vergangenheit gab. Er hatte seinen Sohn größer werden sehen, hatte am Türrahmen alle paar Monate eine Bleistiftmarkierung dicht über seinem Kopf gemacht, um festzuhalten, wie schnell er wuchs. Jacques hatte alles dafür getan, dass ihr Zusammenleben das einer wirklichen Familie war. Er hatte beschlossen, sich in ihr gemeinsames Schicksal zu fügen. Daria hatte es nicht geschafft. Sie hatte sich schuldig und gefangen gefühlt in einem Leben, das sie sich ganz anders vorgestellt hatte. Und sie hatte von Anfang an gewusst, dass auch er andere Pläne für die Zukunft gehabt hatte, als sie zu heiraten und ihren Sohn großzuziehen. Daria hatte nur nicht bedacht, dass sie und Pedro nach neun gemeinsamen Jahren zu Jacques’ Leben gehörten wie sein Atem, sein Herzschlag und seine Erinnerungen. Jacques fuhr sich mit der rauen Hand über das Gesicht. Er zog ein erschreckend langes, sechzigjähriges Leben hinter sich her. Wie eine eiserne Schleppe entrollte sie sich durchs Haus, in den Garten hinaus, bis über die terrassierten Weinberge hinunter zum Mittelmeer, am Meeresboden entlang, immer weiter bis hinüber an die spanische Küste: seine Heimat.
Und diesen langen Weg würde er nun zu seinem Schwiegervater nehmen, um endlich der Einsamkeit zu entfliehen. Emilio freute sich schon darauf. Auch er war allein, seitdem seine Frau Gala Mitte der sechziger Jahre gestorben war. Am Telefon hatte er gesagt: »Wir werden uns ein Motorboot besorgen und den ganzen Tag die Küste rauf- und runterschippern. Das macht man jetzt so bei uns.«
Hinter Jacques klopfte es an die offene Terrassentür. »Nicht erschrecken! Ich bin es nur.«
Die Hand zum Gruß erhoben, trat Emilio über die Schwelle und blieb im einfallenden Licht des Nachmittags stehen. Feine Staubpartikel tanzten aufgeregt um den alten Mann im hellen Leinenanzug herum. Jacques blinzelte ihn ungläubig an
»Emilio! Was tust du hier?« Erstaunt machte er ein paar Schritte auf ihn zu. »Ich habe gar nicht mit dir gerechnet. Ich dachte, wir sehen uns heute Abend in Cadaqués.«
Emilio gab Jacques ein paar Klapse zur Begrüßung auf den Rücken. »Es tut gut, dich zu sehen, mein Sohn«, sagte er und lehnte seinen Gehstock gegen die Anrichte. »Ich bin froh, dass ich noch rechtzeitig komme und du nicht schon mit dem Wagen auf dem Weg zu mir bist.« Er nahm seinen Hut ab und fuhr sich geheimnisvoll lächelnd durchs schüttere weiße Haar.
»Aber …?« Jacques sah seinen Schwiegervater, den einst kraftstrotzenden Maler, dessen greiser Körper nun in sich zusammenzusinken schien, irritiert an. »Willst du nun doch nicht, dass ich in dein Haus einziehe?« Er rückte ihm einen Küchenstuhl heran, damit er sich setzen konnte. Als Emilio umständlich Platz genommen hatte, klopfte er auf den Stuhl neben sich.
»Wir müssen etwas besprechen, mein Sohn. Es gibt Neuig keiten. Du fliegst nach Kanada.«
Jacques starrte Emilio ungläubig an. »Meinst du das ernst?«
»Absolut.« Sein Schwiegervater nickte, wobei er ihn mit seinem Blick
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