Je länger, je lieber - Roman
würde sich die Bilder später genauer ansehen. Erst einmal wollte sie los ins Krankenhaus, um Doktor Felsenstein nach seinen neuesten Erkenntnissen zu fragen und ihre Großmutter zu besuchen.
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Unterwegs, 2013
Zwei Stunden später stand Mimi neben dem Krankenbett ihrer Großmutter und sah auf ihren gebrechlichen Körper im Nachthemd hinunter. Sie lag mit geschlossenen Augen ganz ruhig da. Mund und Nase bedeckte die Maske des Beatmungsgeräts, das gleichmäßig neben dem Kopfende arbeitete. Claras weißgraues, lockiges Haar kringelte sich hübsch um ihren Kopf herum. Wie Schnecken aus Perlmutt. Im linken Handrücken steckte ein Katheter, der über einen dünnen Schlauch mit einem Infusionsbeutel verbunden war und an einem Ständer neben dem Bett hing. Das Gerät, das ihren Herzschlag kontrollierte, piepste und surrte in einem fort. Mimi zog sich einen Stuhl heran. Die Jalousie vor dem Fenster war heruntergelassen. Durch die Lamellen schlich sich ein wenig milchiges Morgenlicht.
Behutsam griff Mimi nach der rechten Hand ihrer Großmutter. Diese Hand hatte während ihres beinahe hundertjährigen Lebens so viel berührt, gearbeitet, gemalt und gehalten.
»Wo bist du gerade?«, flüsterte Mimi. »Hörst du mich?« Sie rutschte mit ihrem Stuhl noch näher heran. »Die Ärzte sagen, dass du vor sehr langer Zeit eine schlimme Verletzung am Herzen erlitten hast, die nicht heilen will.« Mimis Blick schwebte hinüber zum Nachtschrank, auf dem das Kästchen mit dem goldenen Kompass lag, den sie beim letzten Besuch dort hingestellt hatte. »Ich … ich möchte, dass du wieder gesund wirst, dass dein Herz wieder gesund wird. Aber dafür musst du vielleicht noch einmal sehr weit in deine Vergangenheit zurückkehren. Dorthin, wo die Verletzung stattgefunden hat.«
Sie holte tief Luft. Was, wenn all das, was sie in den letzten Wochen herausgefunden hatte, überhaupt nichts mit Claras gebrochenem Herzen zu tun hatte? Was, wenn sie sich total verrannt hatte? Diese Fragen durfte Mimi sich nicht stellen. Der Weg, den sie gerade ging, war ihre einzige Hoffnung, ihrer Großmutter, die immer für sie da gewesen war, Frieden zu bringen. Sie fuhr flüsternd fort: »Ich werde Jacques für dich finden.« In diesem Augenblick meinte Mimi ein leichtes Zucken der Hand ihrer Großmutter zu spüren. Ein kaum merkliches Zucken. Konnte es sein, dass Clara sie verstanden hatte?
»Wie geht es Ihnen?« Doktor Felsenstein war neben Mimi getreten, ohne dass sie ihn hatte kommen hören. Überrascht drehte sie sich um.
»Oh! Guten Morgen!«
Entschuldigend hob er die Hand. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Die Schwester am Empfang hat mir gesagt, dass Sie schon hier sind. Gut, dass Sie so schnell gekommen sind. Wie ich Ihnen schon auf die Mailbox gesprochen habe: Der Zustand Ihrer Großmutter verschlechtert sich zunehmend.« Der Arzt sah Mimi durch seine Brillengläser ernst an und senkte die Stimme. »Sie müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, dass Ihre Großmutter vielleicht nicht mehr aufwacht. Ihr Herz wird immer schwächer und …«
»Was heißt denn ›vielleicht‹?«, unterbrach sie Doktor Felsenstein.
»Vielleicht heißt in diesem Fall ›vermutlich‹. Es tut mir leid, dass ich mit keiner erfreulicheren Nachricht aufwarten kann.« Doktor Felsenstein sah aufrichtig bekümmert aus.
»Aber …« Mimi lächelte hilflos. »Sie haben doch auch auf meine Mailbox gesprochen, dass Sie eine interessante Entdeckung gemacht haben. Ich dachte, Sie hätten etwas gefunden, mit dem Sie meiner Großmutter helfen können.«
»Leider nicht ganz.« Der Arzt gab Mimi ein Zeichen, ihm auf den Flur hinaus zu folgen. Draußen redete er wieder etwas lauter. »Wir sollten vor Ihrer Großmutter diese Dinge nicht besprechen. Inzwischen wissen wir, dass Komapatienten durchaus aufnahmefähig sind. Sie hören zwar nicht direkt, was gesprochen wird, aber sie fühlen quasi das, was man sagt, und das dringt dann in ihr Unterbewusstsein vor und kann sie stark beunruhigen.«
Mimis Herz klopfte. Sie wollte endlich wissen, worum es hier eigentlich ging. »Was haben Sie denn nun entdeckt?«
»In den letzten Tagen habe ich in der ganzen Weltgeschichte herumtelefoniert, um zu verstehen, woran Ihre Großmutter genau leidet. Ich habe mit Herzspezialisten in Wien und Kapstadt gesprochen, aber niemand hat je von solch einer Sache gehört. Nur in Montreal soll es tatsächlich einen ähnlich gelagerten Fall gegeben haben. Allerdings liegt der bereits zwanzig Jahre
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