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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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regelrecht durchbohrte. Diesen Blick, der keinen Widerspruch duldete, kannte Jacques schon. Damals hatte Emilio ihn auf dem Hof genauso angesehen, nachdem er entschieden hatte, dass Jacques seine Tochter heiraten würde.
    »Willst du mir ein zweites Mal in meinem Leben vorschreiben, was ich zu tun habe?« Seine Stimme bebte. Plötzlich meldete sich in ihm ein uraltes Gefühl der Wut und Hilflosigkeit, das er als junger Mann erfolgreich niedergekämpft hatte, um daran nicht zugrunde zu gehen.
    »Beruhige dich.« Emilio tupfte sich die breite Stirn mit seinem Taschentuch ab. »Dieses Mal ist es nur zu deinem Besten.« Er blickte Jacques fröhlich aus seinen hellblauen Augen an. »Sie hat mich angerufen.«
    »Wer?« Was hatte das zu bedeuten? Was ging hier vor? Sein Herz pochte heftig, als wollte es ihm etwas sagen. Etwas, das er in diesem Augenblick bereits mit Gewissheit wusste und doch nicht zu fassen kriegte.
    »Deine Halbschwester.« Nun verschleierte sich Emilios Blick, und er wurde sehr ernst. »Jacques, deine Halbschwester Charlotte hat mich angerufen. Deine Mutter liegt im Sterben. Sie weiß, dass du damals nie verstanden hast, dass sie so schnell nach Aurelios Tod zurück zu ihrer Familie nach Kanada gehen konnte, um diesen grobschlächtigen Charles Champlain mit seiner Fischfabrik zu heiraten. Mirabella weiß, dass sie dich damals allein gelassen hat, und es tut ihr leid.«
    »Ja.« Jacques’ Stimme klang mit einem Mal ungeduldig hart. »Und nun soll ich zu ihr fliegen, um mit meiner Halbschwester Charlotte, die ich noch nicht einmal kenne, um die Erbschaft zu buhlen? Oder worum geht es?« Er sah in Emilios zerfurchtes Gesicht, dessen Augen ihn noch immer fixierten. Seine mit Altersflecken übersäte Hand mit dem großen goldenen Ring wanderte über die Tischplatte und legte sich schließlich auf die von Jacques. Wie eine warme, schützende Decke. Er drückte ziemlich kräftig zu.
    »Dort wartet jemand auf dich.«
    Emilio drückte erneut seine Hand und zog seinen Stuhl noch näher an Jacques heran, sodass sich ihre Knie beinahe berührten. Er beugte sich vor, sein Mund war jetzt dicht an Jacques’ Ohr. »Hör zu, mein Sohn. Aus heutiger Sicht kann ich kaum begreifen, worum ich deinen Vater damals gebeten habe. In meiner Hysterie oder Eitelkeit, aus Furcht um meine Existenz, meine Schaffenskraft, aus Angst um meine Tochter, aus vorauseilendem Gehorsam der Gesellschaft gegenüber habe ich dich in ein Leben hineingezwungen, das nicht deins war. Aber du hast es zu deinem gemacht. Du hast dich nicht gewehrt, weil du dich verpflichtet fühltest. Du hast meinen Wunsch nie infrage gestellt. Bis heute nicht. Ich sehe, was ich angerichtet habe. Heute schüttle ich den Kopf über mich und wünschte, ich hätte meine Angst, was alles mit mir und meinem Ansehen passieren könnte, zum Teufel gejagt. Aber ich war damals eben auch noch relativ jung und von der Wertschätzung der anderen abhängig …« Emilio machte eine Pause, lehnte sich mit einem Seufzer zurück und blickte auf seine goldene Armbanduhr, die er für einen Moment unter seinem Hemdsärmel hervorlugen ließ.
    Jacques zog die Augenbrauen hoch. »Ja?« War Emilios Rede schon zu Ende? Was wollte er ihm sagen? Draußen vor den offenen Küchenfenstern knirschten Räder über den Kies. Vermutlich war das der Umzugswagen, der seine Koffer und Kisten nach Marseille zum Hafen bringen sollte, von wo sie mit dem Schiff eigentlich nach Cadaqués hätten verfrachtet werden sollen. Emilio hob für einen Augenblick den Kopf, dann konzentrierte er sich wieder auf Jacques. »Ich habe mich aus Feigheit schuldig gemacht. Und deine Mutter hat sich schuldig gemacht.«
    »Meine Mutter?« Jacques verstand nun gar nichts mehr. »Was …«
    Emilio hob die Hand. »Sie und ich, wir wollten beide unsere Kinder schützen, um ihnen ihre Bürde zu erleichtern. Ich meiner Tochter, sie ihrem Sohn. Nun, am Ende unseres Lebens erkennen Mirabella und ich, was wir damals angerichtet haben.«
    »Was meinst du?« In Jacques’ Kopf dröhnte es. Worum ging es hier? Was sollte ihm Furchtbares eröffnet werden? Seine Mutter hatte nichts getan, um ihm seine Bürde zu erleichtern. Sie war zurück nach Kanada gegangen und hatte neu geheiratet!
    Emilio lächelte hilflos. »Bis deine Halbschwester Charlotte mich vor ein paar Tagen angerufen hat, hatte ich allerdings keine Ahnung von dem, was deine Mutter getan hat.« Der alte Mann machte eine Pause, um sich in seiner Aufregung zu sammeln. »Sie hat

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