Je länger, je lieber - Roman
Tochter.
Clara liefen die Tränen über das Gesicht. Sie hielt sich an Margaretes Arm fest. Sie flüsterte: »Ich habe Angst, Maggy. Es ist nie gut gegangen, wenn Jacques und ich wieder Kontakt zueinander aufgenommen haben. Das Schicksal hat immer wieder dafür gesorgt, dass wir nicht zueinanderkommen. Wir dürfen es kein weiteres Mal herausfordern. Ich habe Angst, dass sie mich alle verlassen und dieses Haus wieder leer und so still sein wird, wie ein Ort, aus dem alles Leben entwichen ist.«
Margarete strich Clara beruhigend über den Rücken. »Ich werde bleiben. Bis zum Schluss.«
38
Barcelona, 2013
Gegen elf Uhr steckte Mimi im dichten Berufsverkehr. Um sie herum lautes Hupen, als würde ganz Barcelona zu spät kommen. Zwischen den hohen Bürogebäuden hindurch konnte sie einen Blick auf die berühmte Kirche Sagrada Familia mit ihren vier gewaltigen Türmen erhaschen, die an immense skelettierte Schneckenhäuser erinnerten. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, draußen schlängelten sich Vespafahrer in verschwitzten T-Shirts und kurzen Hosen an ihr vorbei. In einer halben Stunde war sie mit Antoni Fuchs am Eingang der Markthalle La Boqueria verabredet. Niemals würde sie es bei diesem Verkehr schaffen, rechtzeitig dorthin zu gelangen.
Kurz entschlossen fuhr sie mit dem Wagen in die nächste Parkgarage und lief durch die verwinkelten Gassen, über Plätze und kleine Märkte, an Souvenirgeschäften und Eisständen vorbei, bis sie schließlich außer Atem, aber ein paar Minuten vor der verabredeten Zeit bei der riesigen Markthalle ankam, in der die unzähligen Händler ihre exotischen Waren aufgetürmt hatten. Mimi hatte noch nicht einmal Luft geholt, da wurde sie schon angesprochen.
»Sind Sie es?«
Hinter ihr stand ein kleiner, schmächtiger Mann mit Brille im maßgeschneiderten Anzug. Kein Zweifel, das musste Antoni Fuchs sein. »Ja. Guten …«
Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich habe Sie quer über die Straße laufen sehen. Ein Wunder, dass sie dieses Manöver überlebt haben. Gehen Sie immer so leichtsinnig mit Ihrem Leben um?«
»Nein, ich wollte Sie nur nicht …«
»Na ja. Am Ende ist es Ihre Sache«, unterbrach der Kurator sie schon wieder, wie ein Lehrer bei der Verkehrserziehung. Beim nächsten Mal würde Mimi einfach weiterreden.
Er machte einige Schritte in die Markthalle hinein. »Möchten Sie einen Kaffee trinken? Sie sehen etwas übernächtigt aus. Sind Sie heute Morgen erst mit dem Flieger angekommen?«
»Nein.« Mimi lächelte bemüht ungezwungen und machte eine Pause, um abzuwarten, ob Antoni Fuchs ihr gleich wieder mit einer Beleidigung ins Wort fallen würde. Aber zu ihrem Erstaunen sah er sie plötzlich abwartend an.
»Sondern?«
Also holte sie tief Luft und erklärte: »Ich bin mit dem Auto hergekommen, da wegen des Streiks gestern keine Flieger gestartet sind.«
»Ah, richtig. Der Streik. Dann haben Sie einen langen Weg zurückgelegt.« Mit einem Mal bekam seine Stimme einen fast fürsorglichen Klang. »Kommen Sie, dort drüben gibt es den besten und stärksten Kaffee Barcelonas. Jedenfalls behaupte ich das.«
Der schmächtige Mann mit dem akkurat frisierten dunklen Haar schlängelte sich geschickt zwischen den Menschentrauben und überladenen Marktständen hindurch, die unter den Bergen von Obst und Gemüse, Geflügel, Meeresfrüchten und Fischen regelrecht zusam menzubrechen drohten. Silbrige Thunfische, Lachs. Seeteufel und violetter Oktopus. Hinter den Ständen mit dem Trockenobst bogen sie ab und hielten vor einem Stand mit Backwaren. »Setzen Sie sich. Ich besorge uns etwas zu trinken.«
Mimi saß in Barcelona, in der Markthalle. Über ihr, dicht unter der Hallendecke, flatterten Tauben auf der Jagd nach Abfällen. Es roch nach Meer, Orangen und Autoabgasen. Als sie Antoni Fuchs aus den Augenwinkeln zurückkehren sah, piepste in der Handtasche ihr Telefon. Eilig zog sie es hervor. Auf dem Display leuchtete eine zweigeteilte, ewig lange SMS von René auf.
Mimi, wirf nicht alles weg. Unsere Liebe hat eine zweite Chance verdient. Würdest Du nicht an eine zweite Chance glauben, würdest Du nicht auf der ganzen Welt nach der verschollenen Liebe Deiner Großmutter suchen. Ich küsse Dich, René.
War das so? In siebzig Jahren würde sie vielleicht auch noch mal gelassener über René und seinen Betrug denken. Im Moment war die Verletzung und die Enttäuschung noch zu frisch, als dass sie überhaupt die Vorstellung daran ertrug. Gut, dass sie jetzt keine Zeit
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