Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
Vom Netzwerk:
paar Wochen, als ihr Mann noch nachts neben ihr lag, alles noch in Ordnung schien und sie sich einfach zu ihm hätte umdrehen können, um ihn zu küssen und zu sagen: »Danke, dass du deine Nächte mit mir teilst.« Es wäre so einfach gewesen, so einfach, dass sie die Schönheit, die dieser Einfachheit innewohnte, nicht gesehen hatte.

37

    Waldblütenhain, 1993
    »Fliegt nicht zu ihm nach Kanada.« Clara blickte ihren Sohn flehend an. »Bitte!« Sie standen im Wintergarten und sahen hinaus in den frühherbstlichen Obstgarten. Jakob ließ seinen Blick zu seiner Frau schweifen, die draußen in kurzen Hosen und Bluse unter den Apfelbäumen stand und die Leiter hielt, auf der ihre Tochter Mimi in Jeans und T-Shirt balancierte, um Äpfel für den Kuchen zu pflücken, den es zum Kaffee geben sollte. Aus der Küche, am Ende der Halle, war Margarete zu hören, die mit dem Handrührgerät zugange war.
    Claras Herz hämmerte. »Jakob! Hast du mich gehört?« Sie mochte es nicht, wenn ihr Sohn nicht sagte, was in seinem Kopf vor sich ging. Das hatte sie schon immer verunsichert. Er hatte diese Art an sich, ganz plötzlich in sich zu versinken; dann kehrte sich seine gesamte Aufmerksamkeit nach innen, so, als nähme er die Welt um sich herum gar nicht mehr wahr, als würde er an einen geheimen Ort fliehen, zu dem Clara niemals vordringen könnte. Früher, als er ein kleiner Junge gewesen war, hatte sie alles versucht, um ihn von diesem ihr unbekannten Ort zurückzuholen. Zuerst hatte sie es mit Kitzeln probiert, dann mit gutem Zureden, schließlich, als er aufs Gymnasium ging, mit bohrenden Fragen. Doch all ihre jämmerlichen Versuche, die allein aus ihrem Schuldgefühl resultierten, ihm eine falsche Identität aufgezwungen zu haben, waren von Jakob einsilbig abgeschmettert worden. »Lass mich in Ruhe!« Er war auf den Dachboden verschwunden und von da aus aufs Dach, was Clara jedes Mal den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte. Wenn er von dort oben abstürzte!
    Dabei hatten sie ein gutes Verhältnis. Clara fühlte sich von ihm geliebt. Doch die Liebe, die er ihr entgegenbrachte, speiste sich vor allem aus Dankbarkeit, dass sie ihn bei sich aufgenommen hatte. Und genau diese kindliche Dankbarkeit hatte Clara damals ausgenutzt, um den heimatlosen Knirps für ihre Zwecke gefügig zu machen. Sie hatte ihn seiner Herkunft beraubt und ihn zu ihrem Fleisch und Blut gemacht, um sich selbst nicht eingestehen zu müssen, dass ihr leiblicher Sohn durch ihre Schuld ums Leben gekommen war. Hätte sie an jenem Mittag nicht wieder einen ihrer Briefe an Jacques schreiben wollen, wäre ihr Rehlein nicht im See ertrunken.
    Und doch: Der Tod ihres Sohnes hätte damals alles verändern können. Sein Tod hätte ihre Befreiung aus der Ehe mit Gustav bedeuten können. Endlich hätte sie zu Jacques verschwinden können, der allein in Arles lebte. Doch sie war es ihrem Rehlein schuldig gewesen, seinen arglosen Vater nicht zu verlassen, obwohl es vielleicht aufrichtiger gewesen wäre. Nie hatte sie Gustav gebeichtet, dass ihr Herz eigentlich für einen anderen schlug. Für Jacques. Nur für Jacques. Immer und ewig für Jacques, den Sohn des Weinbauern Aurelio Barreto.
    Damals, mit Anfang dreißig, hatte sie noch immer nicht begriffen, was sie erst viel zu spät in den letzten Ehejahren mit Gustav verstanden hatte: dass dieser liebevolle Mann und sie eine gute Gemeinschaft bildeten. Kurz vor seinem Tod hatte sie endlich Frieden mit dieser Liebe und diesem Leben geschlossen, solange nur niemand an den weit zurückliegenden Geheimnissen rührte, die Geheimnisse bleiben mussten, damit dieser Friede nicht gestört wurde. Die Geister der Vergangenheit, die sie weggesperrt hatte, durften nicht geweckt werden.
    Sie wollte gar nicht wissen, was Jacques heute tat. Sie wollte nicht wissen, wie er aussah, wie er redete und wie er lachte. Sie wollte nicht an seine Hände und an seine Stimme denken. Und nun hatte er einfach Kontakt zu Jakob und Larissa aufgenommen, die inzwischen die Galerie übernommen hatten. Mit einem fadenscheinigen Anliegen: Das Casado-Gemälde, das er besaß, mit ihrer Hilfe verkaufen zu wollen. Dabei handelten ihr Sohn und seine Frau gar nicht mit Impressionisten.
    Clara trat ans Fenster heran. Sie presste eine Hand auf die kühle Scheibe und wunderte sich, dass diese Hand wie die einer Achtzigjährigen aussah. Faltig und mit vorstehenden Gelenken. Jakob legte wortlos den Arm um sie und zog sie an sich. Wollte er seine Mutter zum

Weitere Kostenlose Bücher