Je länger, je lieber - Roman
unüberlegt war. Doch wenn sie René jetzt nicht anrief, dann aus purer Feigheit. Weil sie Angst hatte vor ihren Gefühlen. Denen wollte sie sich jetzt stel len und prüfen, ob sie diese nicht überwinden konnte, um noch einmal ganz neu anzufangen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie lief über die aufgeheizte Straße, in der die Autoabgase standen, dann in eine schattige Gasse hinein und unter sonnigen Arkaden hindurch. Sie hielt sich das Telefon ans Ohr. Und als René nach dem ersten Klingeln abnahm, fragte er gleich: »Wo bist du?«
39
Lunenburg, 1993
Jacques stand im Wohnzimmer vor dem angeschalteten Fernseher. Um sich auf den Beinen zu halten, klammerte er sich mit einer Hand am Kaminsims fest. Genau an dieser Stelle hatten sie nicht einmal achtzehn Stunden zuvor gemeinsam gestanden und sich mit dem Selbstauslöser seiner Kamera fotografiert. Hier, auf diesen alten, knarrenden Dielen! Er hatte sich zwischen Larissa und Jakob positioniert und seine Arme um sie gelegt. Und nun sollten diese beiden Leute tot sein? Oben an der Küste, vor Dotty’s Cove, war ihre Maschine gestern Abend einfach vom Himmel gefallen. Das war es, was diese geschminkte und geföhnte Nachrichtensprecherin ohne eine Miene zu verziehen in ihrem Fernsehstudio seit heute früh ununterbrochen erzählte.
Seitdem stand er hier und starrte auf die Mattscheibe, über die wieder und wieder das Grauen flimmerte. Wacklige Bilder aus dem Dunkel der Nacht. Es war kaum etwas zu erkennen, außer ein paar Scheinwerfern, die über die aufgeworfene See glitten und keinen Fixpunkt fanden.
Aufgeregte Augenzeugen, die sich am dunklen Strand drängten, bekamen ein Mikrofon unter die Nase gehalten und berichteten im milchigen Kameralicht, es habe gegen Viertel nach neun einen furchtbaren Knall gegeben. »Zehn Minuten später suchten wir ein ganzes Flugzeug.«
Jacques sah, wie unzählige Retter bei Nebel, hohem Wellengang und Wind versuchten, Lebende aus dem Meer zu bergen. Ohne Chance. Das Flugzeug war beim Aufprall auf die Wasseroberfläche in Hunderte Teile zerschellt.
»Jetzt ist es traurige Gewissheit«, sagte diese Nachrichtensprecherin, die nach Dienstschluss zu ihrer Familie nach Hause gehen würde. »Es gibt keine Überlebenden.«
Jacques kniff die Augen zusammen in dem Versuch, mehr zu erkennen, als die verwischten Bilder hergaben. Mit schlurfenden Schritten trat er näher an den Fernseher heran und sah schemenhaft Rettungsboote, die an der Küste entlangglitten. Männer in leuchtend orangen Overalls fischten mit langen Stangen verwaiste Kleidungsstücke aus dem Wasser. Die Anwohner von Dotty’s Cove ruderten in ihren Booten hinaus in die alles verschlingende Unendlichkeit und suchten dort draußen nach Überlebenden, in dieser sich aufbäumenden See, die niemanden wieder hergeben wollte.
Jacques atmete tief ein. Es war seine Schuld. Hätte er nicht Kontakt zu ihnen aufgenommen, wären sie nie zu ihm gekommen. Clara würde es genau so sehen. Wusste sie schon, was passiert war? Wenn er sie doch nur hätte anrufen können. Aber ihre Telefonnummer gab es nicht bei der Auskunft. Lediglich die der Galerie. Und dort meldete sich nur der Anrufbeantworter.
Er streckte den Arm mit der Fernbedienung aus und schaltete das Gerät ab. Gemeinsam hatten sie gerade noch drüben in der Küche gekocht. Larissa und Jakob hatten ihm Fotografien ihrer fünfzehnjährigen Tochter Mimi gezeigt, und er hatte Bilder von sei nem Sohn Pedro, dessen Frau Claire und seiner Enkelin Cécile hervorgeholt. Beim Abschied hatten sie versprochen, sich zu Weihnachten in Waldblütenhain wiederzusehen. Dann waren diese beiden reizenden Leute zum Flughafen aufgebrochen.
Jacques tapste über die Dielen in die Halle. Dort blieb er unschlüssig stehen. Was sollte er tun? Seine Augen brannten. Schritt für Schritt stieg er die Treppe hinauf, wobei er seine Hand um das Geländer legte. Ohne sich daran emporzuziehen, schaffte er es gar nicht in den ersten Stock. Sein Herz machte Probleme. War es ein Wunder? In zwei Tagen hatte er wieder einen Untersuchungstermin beim Spezialisten in Montreal. Den würde er sausen lassen. Er hatte keine Lust mehr auf all diese unnützen Tests, die nirgendwohin führten. Sein Herz wies eine eigenartige Verletzung auf, die offenbar nicht verheilte. Na und? Wen kümmerte es .
Jacques kam oben am Fuß der Treppe an und verschwand im Schlafzimmer. Vom Bett zog er die rote, gewebte Decke. Andächtig strich er mit seiner Hand darüber. Mein Gott!
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