Je länger, je lieber - Roman
Weinen bringen? Hatte er überhaupt eine Vorstellung davon, was gerade in ihr vorging? Er hatte ja keine Ahnung von ihrer Angst, erneut von ihren Gefühlen für Jacques übermannt zu werden. Was, wenn sie nicht stark genug war und ihr Herz wieder begann wehzutun? Wusste er, wie sehr sie damals gelitten hatte? Und vielleicht, tief drinnen, immer noch litt? Jacques und sie hatten sich ja nicht einmal geküsst! Nie hatten sie beieinandergelegen, sich berührt, sich gehalten, und doch kam es ihr vor, als hätten sie kaum eine Sekunde ohne einander verbracht.
Sie wollte diese Sehnsucht nicht wecken, die nur in einen leichten Schlaf gefallen war. Sie sah hinaus zu ihrer Schwiegertochter, ihrer Enkelin, die streng ge nommen gar nicht ihre Enkelin war! Clara hatte Jahrzehnte lang wie unter einer Glasglocke gelebt, weil sie von einem Traum nicht hatte lassen können. Was für ein Verbrechen an sich selbst und an all den Menschen, die bereit gewesen waren, sie zu lieben! Jetzt fühlte sie sich frei und unabhängig. War das ein Test, den sie auch noch bestehen musste, um zu prüfen, ob sie Jacques wirklich losgelassen hatte? Was spielte das für eine Rolle? Sie war beinahe achtzig Jahre alt!
Sie sah ihren Sohn von der Seite an. »Wollt ihr Jacques wirklich besuchen?« Ihre Stimme zitterte. »Nach all den Jahren! Jakob! Er ist uralt. Wohin soll das führen?«
Ihr Herz schlug bis zum Hals bei der Vorstellung, dass er und Larissa bereits am nächsten Tag dem Jungen mit den grünen Augen, den sie seit über fünfundsechzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, gegenüberstehen würden.
Endlich wendete Jakob Clara sein Gesicht zu. Seine Stimme war warm und doch sachlich. »Er wünscht sich nur wieder Kontakt zu dir. Und du solltest dich nicht dagegen sträuben.«
»Was meinst du damit?«
Sein Blick ging wieder hinaus in den Obstgarten, wo Mimi ihrer Mutter ein paar Äpfel zuwarf, die diese geschickt mit einer Hand auffing, während sie mit der anderen die Leiter festhielt. »Ihr habt euch doch einmal sehr geliebt. Für irgendetwas muss doch euer Verzicht gut gewesen sein. Euer Leben ist noch nicht zu Ende. Gustav ist tot. Ihr habt eine zweite Chance verdient.«
»Wozu?« Clara lief ein kalter Schauer den Rücken herunter. Sie presste die Hand auf ihr Herz. Ihr Atem ging stoßweise. Warum hörte Jakob nicht einfach auf damit? Warum war er so grausam? War er das denn überhaupt? Oder tat er das einzig Vernünftige, um sie endlich alle von diesem elenden Fluch der Halbwahrheiten zu befreien?
»Beruhig dich, Mama.« Er hob die Hand und winkte seiner Frau und seiner Tochter zu. »Ich möchte nur, dass Mimi weiß, was damals passiert ist. Wie eins zum anderen geführt hat. Sieh sie dir an! Wie ahnungslos sie ist. Sie ist voller Vertrauen, dass jeder um sie herum die Wahrheit sagt. Soll sie eines Tages erkennen, dass es nicht so ist? Dass die Menschen, die sie liebt, ihr etwas vorgemacht haben? Ich möchte, dass sie weiß, woher ich komme.«
»Aber«, versuchte es Clara, »sie muss doch nie davon erfahren. Für sie ändert sich doch gar nichts. So, wie sich für Gustav bis zu seinem Tod nichts geändert hatte.«
»Willst du mit dieser Lüge sterben?«
»Mit welcher Lüge?«
»Dass du nicht ihre Großmutter bist.« Jakob sah Clara jetzt wieder ernst an. Sein Blick war nicht kalt, aber unnachgiebig. »Dass ich nicht dein leiblicher Sohn bin?«
»Aber«, ihr war schwindlig. Ihr Herz tat so weh. »Aber, mein Kind! Ich bin ihre Großmutter!« Clara wollte nichts mehr hören. Ihr Mund war trocken, sie schnappte nach Luft. »Du bist mein Sohn.«
Jakob legte seine Hände auf Claras Schultern. »Mama, wovor hast du Angst? Wir sind deine Familie. Du wirst uns nicht verlieren. Ich will ihr nur alles erzählen. Sie ist meine Tochter, und ich habe ein Recht darauf. Du wirst sehen, dass sich alles fügen wird. Alles. Vetrau mir. Ich liebe dich.«
»Was? Ich … ich habe …« Claras Augen irrten durch den Wintergarten. Sie hörte, wie Margarete durch die Halle hereinkam. Hilfesuchend drehte sie sich zu ihr um. Konnte die alte Verbündete ihn nicht zur Vernunft bringen! Margarete war dabei gewesen. Sie kannte die bittere Wahrheit. Sie wusste, in welche Zwangslagen erwachsene Menschen kommen konnten. »Margarete … Bitte rede du mit ihm.«
Die Haushälterin warf Jakob einen missbilligenden Blick zu. Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, ging er die Stufen hinunter in den Obstgarten und küsste seine Frau auf die Stirn, dann umarmte er seine
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