Je länger, je lieber - Roman
Wie alt seine Hand war! Faltig und mit bläulichen Adern überzogen. Und sie strich noch immer über diese gewebte Decke, die damals schon über seinem Bett in den katalanischen Weinbergen gelegen hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er die heiße, flirrende Sonne auf seiner Stirn. Dann wurde ihm unglaublich kalt, sodass er die rote Decke wie eine Pelerine um seine Schultern legte.
Seufzend trat er ans Fenster. Er sah hinaus in diesen Garten da unten. Nichts daran war wie seine Liebe zu Clara. Wild und ungestüm und ewig jung. »Trostlos und morsch«, flüsterte er.
Schließlich schlurfte er zurück in den Flur zur Kommode, die er einst mit seinem Vater gezimmert hatte. Darauf lag seine neue Spiegelreflexkamera. Er nahm sie und ging damit wieder hinunter, wobei er die Decke wie den roten Samtumhang eines Königs hinter sich herzog.
Die Nachmittagssonne kam hellorange zu ihm herein, und hätte einer seiner Nachbarn ihn hier in seinem majestätischen Umhang verloren im Wohnzimmer stehen sehen, er hätte vermutlich die Fürsorge benachrichtigt.
Er blieb vor dem Kamin stehen, mit der Kamera in der Hand, und sah zum Ölgemälde von Emilio Cassado. Genau wie seine Tochter hatte auch er diese Welt verlassen. Und bald würde Jacques ihnen folgen. Auf diesem ewig jungen Bild badeten zwei Freundinnen in der Brandung des spanischen Meers. Die Sonne ließ ihre nassen Körpern, die sie mit hauchzarten, durchweichten Tüchern umschlungen hatten, golden erstrahlen. Daria und Clara. Bäuchlings lagen sie im seichten Wasser, wie prähistorische Urtiere aus dem Meer, die versuchten, an Land zu kriechen, um dort erwachsen und aufrecht durchs Leben zu gehen. Aber hatte denn irgendeiner von ihnen überhaupt je den aufrechten Gang gelernt? Waren sie nicht alle bis zum Schluss wie prähistorische Tiere an Land herumgekrochen? Zum Aussterben verurteilt, weil sie es nicht schafften, sich den Gegebenheiten ihrer Umgebung anzupassen?
Daria hatte dieses Bild geliebt. »Es erinnert mich an die Zeit, in der wir dachten, wir würden frei sein.« Daria. Eines Tages war sie drüben in Montreal auf eine dieser vielen Eisenbahnbrücken geklettert und hinuntergesprungen, weil sie das Gekrieche nicht mehr hatte ertragen können. Ab da war sie gerollt. Er lachte bitter auf. All die hilflosen Versuche, dem Schicksal zu entrinnen, hatten es nur immer schlimmer gemacht, und nun waren wieder zwei Menschen bei einem dieser Versuche auf der Strecke geblieben.
Er schüttelte seinen alten, schweren Schädel. Ihm war kalt. Er ging näher ans Fenster heran und holte den Film aus der Kamera. Er würde ihn entwickeln lassen. Zur Erinnerung. An einen kurzen Moment unbändiger Freude und Freiheit.
40
Marseille, 2013
Am frühen Abend stand Mimi schon wieder in einer Flughafenhalle. Dieses Mal in Marseille, nachdem sie mit dem Auto an der spanischen, dann an der französischen Küste entlanggerast war, um rechtzeitig da zu sein, wenn Renés Maschine landete. Angespannt starrte sie auf die Tafel mit den Ankunftszeiten. Dann wieder auf die Uhr in ihrem Handy. In ein paar Minuten würde er vor ihr stehen. Zumindest hatte er ihr das versprochen. Wie in Trance bewegte Mimi sich Richtung Gate. Sollte sie doch besser weglaufen? Was, wenn es wieder wehtat, wenn sie ihn sah? Was, wenn wieder diese quälenden Bilder aufkamen und sie sich vorstellen musste, wie er diese rothaarige Frau küsste? Vermutlich war sie gar nicht so mutig und abenteuerlustig, wie sie es gern von sich geglaubt hätte. Auch wenn sie gerade wirklich bereute, René auf seine SMS hin angerufen und nach Marseille gelockt zu haben, blieb sie tapfer stehen. Wenn sie dieses schlimme Erlebnis hinter sich lassen wollte, musste sie sich dem Schmerz stellen und sehen, was dabei herauskam. Immerhin hatte Renés Betrug ihr eine wunderbare Nacht mit Bruno beschert. Das durfte sie nicht vergessen. Mimi holte tief Luft und flüsterte: »Dann wollen wir mal.«
Gleich würde René da vorne aus dieser Glasschiebetür kommen, vor der schon ein paar Leute aufgeregt auf ihre Angehörigen warteten. Wie würden sie sich begegnen? Würden sie verkrampft voreinander stehen bleiben? Würden sie einander steif umarmen? Sich vielleicht sogar wie gute Bekannte rechts und links auf die Wangen küssen? Sie waren zwar noch immer verheiratet, aber Mimi wusste trotzdem nicht, welche Art von Beziehung sie jetzt hatten. Vorhin am Telefon hatten sie nicht viel geredet. Eigentlich nur ein paar Sätze. René hatte
Weitere Kostenlose Bücher